KG verbietet “Taliban”-Tweet von Julian Reichelt – Zu Recht? Wie geht es weiter?
Unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Victoria Thüsing und ich durften in der Zeitschrift Kommunikation & Recht (K&R) eine aktuelle – jedenfalls in den sozialen Medien viel beachtete – Entscheidung kommentieren.
KG verbietet Reichelt-Tweet
Das KG Berlin hat im November 2023 eine Entscheidung des LG abgeändert, das einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung der Bundesrepublik Deutschland gegen den früheren “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt noch zurückgewiesen hatte (KG, Beschluss vom 15.11.2023, Az. 10 W 184/23). Gegenstand des Verfahrens war der folgende „Tweet“:
Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!)
Das LG hatte gemeint, dass es sich bei der Äußerung um eine zulässige Meinungsäußerung handele. Gegen diese Entscheidung legte das BMZ Beschwerde ein. Daraufhin untersagte das KG den Tweet. Die Äußerung sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet sei, die Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik und des BMZ erheblich zu beeinträchtigen.
Eine zweifelhafte Entscheidung
Man kann zu den Äußerungen von Julian Reichelt stehen, wie man will. Jedenfalls diese dürfte rechtmäßig sein. Hauptargumente:
Es handelt sich um eine Meinungsäußerung und nicht um eine Tatsachenbehauptung. Dass die „Taliban“ – mittelbar – von Zahlungen profitieren, dürfte auf der Hand liegen. Dass Herr Reichelt fast immer verzerrt, übertreibt oder polemisiert, auch.
- Twitter-Usern kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass sie nur Überschriften und nicht auch die verlinkten Beiträge lesen.
- Bei Kritik an den „Mächtigen“ ist besondere Zurückhaltung geboten. Vor dem Hintergrund des Subordinationsverhältnisses zwischen Staat und Bürger sind entsprechende Äußerungen nur im Ausnahmefall rechtswidrig.
Einzelheiten in unserem Beitrag: Zivilrechtlicher Ehrschutz für juristische Personen, Kommentar zu KG Berlin, Beschluss vom 15. 11. 2023 – 10 W 184/23, Kommunikation & Recht 2023, 64
Verfassungsbeschwerde hat wenig Aussicht auf Erfolg
Reichelt hat gegen die Entscheidung Verfassungsbeschwerde eingelegt. Deren Erfolgsaussichten sind wiederum jedoch gering:
Richten sich Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, gebietet der Grundsatz der materiellen Subsidiarität regelmäßig die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache, wenn Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen (vgl. BVerfGE 77, 381, 401; 79, 275, 278 f.; 86, 15, 22 f.; ständige Rechtsprechung). Anders liegt es nur, wenn Beschwerdeführende eine Rechtsverletzung geltend machen, die das Fachgericht gerade durch die Art und Weise der Bearbeitung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verursacht hat. Die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit war hier in den letzten Jahren oft Grund für erfolgreiche Verfassungsbeschwerden. Vorliegend geht es jedoch um Kritik an der Entscheidung in der Sache und gerade nicht um prozessuale Fehler.
Reichelt muss nun wahrscheinlich ein paar Jahre warten
Reichelt müsste demnach entweder eine negative Feststellungsklage erheben oder die BRD zur Erhebung der Klage in der Hauptsache zwingen. Das LG Berlin würde sich mittlerweile wahrscheinlich nach der höheren Instanz richten und den Tweet verbieten. Auch das KG wird nicht ohne Weiteres von seiner Auffassung abweichen, so dass eine Neubeurteilung des Falls erst in ein paar Jahren vom BGH zu erwarten wäre. Erst danach wäre eine Verfassungsbeschwerde und/oder eine Überprüfung durch den EGMR möglich.
Update: Bundesverfassungsgericht hebt KG-Beschluss auf – Reichelt darf Tweet (vorerst) weiterverbreiten
Mit Beschluss vom 21. März 2024 (Az. 1 BvR 2290/23) hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Kammergerichts Berlin aufgehoben, mit der Julian Reichelt die Verbreitung eines Tweets untersagt worden war. Damit hat Karlsruhe nicht nur materiell die Meinungsfreiheit gestärkt, sondern auch – und das ist bemerkenswert – ausnahmsweise auf die Ausschöpfung des Hauptsacherechtswegs im einstweiligen Rechtsschutz verzichtet.
Rechtswegerschöpfung: Ausnahmsweise entbehrlich
Besondere Aufmerksamkeit verdient die verfassungsprozessuale Begründung. Denn das BVerfG setzt sich eingehend mit dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität auseinander, der es regelmäßig erfordert, zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg in der Hauptsache auszuschöpfen, bevor Verfassungsbeschwerde gegen eine Eilentscheidung erhoben werden kann.
Vorliegend machte Reichelt jedoch ausschließlich Grundrechtsverletzungen geltend, die sich auf die Hauptsache beziehen. Gleichwohl nahm das BVerfG die Beschwerde zur Entscheidung an. Die Begründung: Die Entscheidung des Kammergerichts sei nicht nur falsch, sondern führe zu einem besonders gewichtigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG, der sich im Hauptsacheverfahren nicht mehr oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung rückgängig machen ließe.
Karlsruhe betont in diesem Zusammenhang, dass in Fällen politischer Kommunikation, insbesondere im Kontext aktueller gesellschaftlicher Debatten, ein effektiver Grundrechtsschutz nur dann gewährleistet ist, wenn Äußerungen nicht über Jahre hinweg unterbunden bleiben. Die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens sei dem Beschwerdeführer daher nicht zumutbar gewesen. Diese Argumentation folgt der Linie früherer Kammerentscheidungen, in denen etwa bei Eingriffen in die presse- und meinungsbezogene Berichterstattung über Politiker oder staatliche Maßnahmen eine ausnahmsweise sofortige verfassungsgerichtliche Überprüfung ermöglicht wurde.
Meinungsäußerung mit polemischer Zuspitzung – keine unwahre Tatsachenbehauptung
Auch in der Sache selbst korrigierte das BVerfG die Entscheidung des Kammergerichts deutlich: Die Äußerung Reichelts stelle keine unwahre Tatsachenbehauptung dar, sondern sei als polemisch zugespitzte Kritik durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Der Tweet („Deutschland zahlte […] 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!)“) sei erkennbar eine grobe Vereinfachung und Überzeichnung realer Sachverhalte. Gerade weil sich Reichelt nicht auf eine sachliche Darstellung beschränke, sondern bewusst skandalisiere, sei für das Publikum offensichtlich, dass es sich um eine pointierte Meinung handele. Die pauschale Gleichsetzung staatlicher Entwicklungshilfe mit einer Finanzierung der Taliban sei daher zwar überzogen, aber nicht als Tatsachenbehauptung im engeren Sinne justiziabel.
Die vom Kammergericht angenommene schwere Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit staatlicher Stellen durch die Äußerung wurde vom BVerfG nicht nachvollzogen. Auch staatliche Akteure – selbst wenn sie durch Falschdarstellungen getroffen werden – müssten eine grundrechtskonforme Abwägung mit dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG hinnehmen, insbesondere wenn es sich bei dem Äußernden um einen gesellschaftlich relevanten Akteur handelt, der zur politischen Meinungsbildung beiträgt.
Konsequenzen für den weiteren Verfahrensverlauf
Der Beschluss des BVerfG hat zur Folge, dass das Verbot des Tweets (zunächst) aufgehoben ist. Ein etwaiges Hauptsacheverfahren bleibt davon unberührt, dürfte aber nach der nun getroffenen verfassungsrechtlichen Einschätzung wenig erfolgversprechend sein. Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Wege einer Kammerentscheidung nicht nur die Zulässigkeit, sondern auch die Begründetheit in der Sache entschieden hat – ein klares Zeichen für den grundrechtlichen Schutz politisch zugespitzter Aussagen, auch wenn sie aus staatlicher Sicht als provokativ oder polemisch erscheinen mögen.