Das Bundesverfassungsgericht will für Gleichheit sorgen – und verschiebt die Machtverhältnisse im Verfahren um Einstweilige Verfügungen.
Ein Grundsatz der Gerechtigkeit besagt, dass man Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln soll. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist eine Instanz, in deren Entscheidungen es oft um Fragen geht, bei denen sich Recht und Gerechtigkeit sehr nahe kommen, schließlich geht es um die Auslegung des Grundgesetzes.
Gehörsgrundsatz und Waffengleichheit
In einer aktuellen Entscheidung zu Art. 103 Abs. 1 GG wird jedoch gerade jener Grundsatz torpediert. Denn das Anliegen des BVerfG, Abgemahnte zu schützen (für „prozessuale Waffengleichheit“ zu sorgen, wie es etwas martialisch in der Pressemitteilung aus Karlsruhe heißt), überspannt den Bogen.
Wir berichteten über die Entscheidung hier:
Das BVerfG hat „klargestellt, dass eine Einbeziehung der Gegenseite in das einstweilige Verfügungsverfahren grundsätzlich auch dann erforderlich ist, wenn wegen besonderer Dringlichkeit eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen darf“.
Zudem hat es „bekräftigt, dass eine prozessuale Einbeziehung der Gegenseite nur dann gleichwertig durch eine vorprozessuale Abmahnung ersetzt werden kann, wenn Abmahnung und Verfügungsantrag identisch sind“. Wenn allerdings „der Verfügungsantrag auf das vorprozessuale Erwiderungsschreiben argumentativ repliziert, neue Anträge enthält oder nachträglich ergänzt oder klargestellt wird“, dann sei „das nicht der Fall“. Denn dann werde Art. 103 Abs. 1 GG nicht genüge getan.
Eine Abmahnung enthält keinen Unterlassungsantrag
Eine Abmahnung ist ein Angebot zum Abschluss eines Vertrags, in dem geregelt wird, was der Andere künftig tun oder unterlassen soll. Mit einem Antrag vor Gericht strebt man einen Unterlassungstitel an. Die Beurteilungsmaßstäbe und Anforderungen an den Inhalt von Abmahnung und Antrag sind nicht identisch. Auch die Auslegung einer vertraglichen Unterlassungsverpflichtung auf der einen und eines gerichtlichen Unterlassungsgebots auf der anderen Seite folgt nicht den gleichen Regeln. Insoweit sollte auch die Formulierung nicht zwingend identisch sein müssen.
Es ist schwer nachzuvollziehen, warum das Bundesverfassungsgericht keine Differenzierung zwischen Abmahnung und Antrag vornimmt, die auf die Sprachform durchschlägt. Unterschiedliche Anliegen erfordern eine unterschiedliche Diktion und Argumentation. Wer von einem Anderen ein bestimmtes Verhalten motivieren will, muss sich anders ausdrücken, als wenn er einen Dritten davon überzeugen will, er möge ihm doch dabei helfen, dieses Verhalten des Anderen autoritativ zu motivieren. Kurz: Wo die Beurteilungsmaßstäbe und Anforderungen an den Inhalt nicht identisch sind, kann auch Form, Stil und Umfang der Darlegung nicht identisch sein.
Gleichheitsstreben sorgt für Ungleichheit
In der Praxis stellt diese „Waffengleichheit“ die Machtverhältnisse auf den Kopf – zu Ungunsten des Abmahnenden und insoweit Geschädigten.
Denn: Jetzt kann der Abgemahnte den Abmahner in eine Zwickmühle bringen, indem er einfach umfangreich auf eine Abmahnung erwidert. Der Abmahner hat dann nur zwei (unbefriedigende) Optionen: Entweder er lässt sich auf den außergerichtlichen Schlagabtausch ein (das kostet Zeit, Geld sowie Nerven und läge nach gängiger Auffassung auch der mit einer einstweiligen Verfügung behaupteten Dringlichkeit quer) oder aber er bringt die Angelegenheit rasch vor Gericht, darf dann aber nichts Neues mehr ergänzen, um die Erwiderung zu entkräften. Insoweit könnte das Gericht – zumal eine Kammer, die mit der Sache nicht so vertraut ist – den ausführlichen Argumenten des Abgemahnten zu folgen, geneigt sein, schlicht und einfach, weil der Abmahner dazu nicht widersprechen kann, ohne zugleich die Identität von Abmahnung und Antrag aufzuheben – und damit den prozessualen Erfolg seines Anliegens zu gefährden.
Im Klartext: Entweder der Antragsteller zieht inhaltlich oder formal den Schwarzen Peter.
Und die Moral von der Geschicht’?
Man muss sich fragen, welche Botschaft das BVerfG mit der Entscheidung aussendet (und BVerfG-Urteile enthalten immer Botschaften an die Gesellschaft). Soll sie Abgemahnte ermutigen, ihre Abmahner in lange außergerichtliche Schriftwechsel zu verwickeln, um in dieser Zeit unbeeinträchtigt weiter gegen das Unterlassungsanliegen verstoßen zu können? Das wäre in der Tat alles andere als gerecht.