War Merkels Ermächtigung zur Verfolgung der böhmermannschen Majestätsbeleidigung rechtmäßig?
Ich wurde gebeten, an dieser Stelle etwas über das Verhältnis der §§ 103 und 104a StGB zu schreiben.
Dazu muss ich leider feststellen, dass ich den § 103 StGB bisher allenfalls im sachgedanklichen Mitbewusstsein hatte; der § 104a StGB war mir vollständig unbekannt. Aber ich bin zuversichtlich, dass es den allermeisten Juristen genauso geht.
Ein Blick in den Kommentar hilft hier auch nicht viel weiter. Die Kommentierung beschränkt sich fast ausschließlich auf die Paraphrasierung des Gesetzestextes. Referenzen zur Rechtsprechung gibt es keine. Offenbar ist der Paragraph in den letzten fünfzig Jahren nicht angewendet worden.
Mangels Material zum Festhalten ist der Jurist so zurückgeworfen auf etwas, das vielen Juristen zutiefst zuwider ist: selbst denken. Stellen wir uns also mal ganz dumm und fangen ganz vorne an:
Zunächst einmal ist § 103 ein normaler Straftatbestand mit objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen. Dass er im Gesetz so weit vorne steht, deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber ihn seinerzeit wohl für besonders wichtig erachtet hat. Das steht in einem gewissen Missverhältnis zur Häufigkeit seiner Anwendung. Die Zeiten haben sich eben geändert seither. Damals gab es noch einen Kaiser und die Reichsmark. Und der Gesetzgeber ist eine schlechte Müllabfuhr: Selbst lange Überkommenes bleibt stehen, auch wenn es längst als unzeitgemäß und verfassungswidrig erkannt wurde. Denken Sie nur an den berüchtigten § 175 StGB, der den gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellte. Der ist erst 1994 abgeschafft worden.
Im Prozessrecht gilt das Legalitätsprinzip, d. h. grundsätzlich jede Straftat, von der die Ermittlungsbehörden Kenntnis erlangen, muss auch verfolgt werden. Bei § 103 StGB hat der Gesetzgeber hiervon wegen des Auslandsbezugs eine Ausnahme gemacht: § 104 StGB sieht vor, dass eine Strafverfolgung nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.
Eine dieser Voraussetzungen ist die Ermächtigung zur Strafverfolgung, von der jetzt alle reden. Durch die Vorschaltung dieser Ermächtigung soll verhindert werden, dass Strafverfolgung einsetzt, wo sie aus politischen oder diplomatischen Gründen nicht opportun ist. Das ist allerdings nicht umkehrbar: Man kann keine Ermächtigung zur Strafverfolgung aussprechen, wo gar kein Straftatbestand verwirklicht ist.
Die Ermächtigung ist daher zwar eine politische Entscheidung, sie setzt aber systematisch zwingend eine Rechtsprüfung voraus. Wo nämlich der Straftatbestand gar nicht verwirklich ist, griffe eine Ermächtigung nicht nur ins Leere, sie wäre auch rechtswidrig. Deshalb wäre es im Rahmen dieser politischen Entscheidung zwingend erforderlich gewesen zu prüfen, ob das Verhalten des Herrn Böhmermann den Tatbestand verwirklicht. Eine derartige Prüfung scheint gleichwohl nicht stattgefunden zu haben, einige Quellen berichten sogar darüber, die Bundeskanzlerin hätte nicht einmal ein in Auftrag gegebenes Gutachten abgewartet.
Eine weitere Voraussetzung der Strafverfolgung ist die Gegenseitigkeit, die laut Gesetzestext sogar „verbürgt“ sein muss. Hiervon war in der Presse fast gar nicht die Rede, obwohl hier wirklich politischer Zündstoff steckt. „Gegenseitigkeit“ bedeutet nämlich, dass „die Bundesrepublik im entsprechenden Auslandsstaat denselben Rechtsschutz“ genießt. Hier hat dann doch mal die Kommentierung geholfen. Im Falle Böhmermann hieße das, es müsste „verbürgt“ sein, dass ein türkischer Komiker, der in der Türkei Witze über die deutsche Kanzlerin macht, auf entsprechendes Ersuchen in der Türkei strafrechtlich verfolgt würde. Ich schreibe hier nur als Gast, ich formuliere daher mal ganz zurückhaltend: Ich habe meine Zweifel.
Die nächste Frage ist, wer eigentlich die Gegenseitigkeit prüft. Diese Frage tauchte in der Presse durchaus auf, etliche Kommentatoren waren der Ansicht, die Gegenseitigkeit müsse vom Tatgericht geprüft werden. Das ist systematisch allerdings eher abwegig.
Die „Gegenseitigkeit“ ist eine „objektive Voraussetzung der Strafbarkeit“. Das ist dogmatisch ein objektiver Umstand, der vom Vorsatz des Täters nicht umfasst sein muss. Ein sonstiges Beispiel hierfür ist die Nichterweislichkeit der behaupteten Tatsache bei der Üblen Nachrede. Solche Voraussetzungen stehen üblicherweise in der betreffenden Strafnorm.
Nicht so die Gegenseitigkeit – die steht in § 104a StGB: dort also, wo auch die Ermächtigung geregelt ist. Das spricht systematisch stark dafür, dass nicht das Tatgericht das Vorliegen zu überprüfen hat, sondern dasjenige Organ, das auch die Ermächtigung erteilt. Alles andere wäre wenig sinnvoll. Das zeigt auch die Gegenprobe: Das Tatgericht hätte mangels entsprechenden Wissens nämlich gar nicht die Möglichkeit, selbst die Gegenseitigkeit festzustellen. Es müsste hierzu ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben. Sachverständig in dieser Angelegenheit wäre wohl vorrangig das Auswärtige Amt. Damit wäre die Frage dann wieder auf derselben politischen Ebene angekommen, auf der sie auch ursprünglich lag. Das gibt uns nebenbei auch bereits einen Hinweis darauf, wer eigentlich für die Erteilung der Ermächtigung zuständig ist.
Spannend ist nämlich die Frage, wer die Ermächtigung zur Strafverfolgung konkret erteilt. Dieses Problem ist in der Presse fast vollständig untergegangen. Ich habe sie erstmals beim Kollegen Michael Selk gefunden, der dies in seinem Blog thematisiert hat. Im Gesetzestext ist von der „Bundesregierung“ die Rede. Nach der Entscheidung war in der Presse gelegentlich davon die Rede, die Stimmen der CDU-Minister oder gar die Stimme der Kanzlerin hätten „den Ausschlag“ gegeben. Das kann bestenfalls im übertragenen Sinne gemeint gewesen sein. Denn die Bundesregierung ist kein Vereinsvorstand, der einmal im Monat tagt und mehrheitliche Entscheidungen trifft. Außerdem gibt es deutlich mehr CDU/CSU-Minister als es SPD-Minister, so dass eine derart knappe Mehrheitsentscheidung selbst dann nicht zu erwarten gewesen wäre.
Richtig ist, dass es innerhalb der Bundesregierung Ressortzuständigkeiten gibt. Zuständiges Ressort für die hier interessierende Frage ist das Außenministerium. Das wird bekanntlich von Franz-Walter Steinmeier geführt, der sich öffentlich gegen die Erteilung der Ermächtigung ausgesprochen hat.
Wer also hat die Ermächtigung eigentlich erteilt? Die Kanzlerin kann es nach der Verfassung jedenfalls nicht gewesen sein. Die hat zwar nach Art. 65 GG Satz 1 die so genannte Richtlinienkompetenz – die dürfte hier aber kaum einschlägig sein. Denn es handelt sich nicht um Richtung und Gestaltung der Gesamtpolitik, sondern nur um die Erteilung der Ermächtigung zur Strafverfolgung im Einzelfall.
Ein Wort ist bis hierhin aus gutem Grunde übrigens überhaupt noch nicht gefallen, weil es mit der ganzen Angelegenheit aber auch rein gar nichts zu tun hat: das der Gewaltenteilung. Die Erteilung der Ermächtigung zur Strafverfolgung ist von Gesetzes wegen einzig und allein der Exekutive zugeordnet. Deren Rechtsprüfung ist auch nicht etwa ein Eingriff in die Judikative, sondern zwingende Voraussetzung für deren Tätigwerden.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Kanzlerin für die Erteilung der Ermächtigung nicht zuständig war und die Entscheidung zudem formal fehlerhaft ist, weil es an der zwingend zu prüfenden Gegenseitigkeit fehlt. In der Sache hätte vorab zudem eine Rechtsprüfung stattfinden müssen, die nicht stattgefunden hat und höchstwahrscheinlich zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass der Straftatbestand des § 103 StGB nicht erfüllt ist. Zum materiellen Tatbestand wurde bereits so viel gesagt und geschrieben, dass ich mich hier auf die Feststellung beschränken möchte, dass mir aufgrund des Sachzusammenhanges eine Beleidigung fernliegend erscheint. Die schönste Argumentation hierfür habe ich bezeichnenderweise bei einem Nichtjuristen gefunden: bei Oliver Kalkofe.
Darüber sollten sich die ganzen Juristen vielleicht auch mal ihre Gedanken machen.
Der Beitrag stammt vom geschätzten Kollegen und Fachanwalt für Strafrecht Christoph Nebgen, den wir gebeten haben, uns und unseren Lesern die Hintergründe der Ermächtigung zur Strafverfolgung im Fall Erdogan ./. Böhmermann durch die Kanzlerin zu erläutern. Er ist der Auffassung, dass Merkels Entscheidung fehlerhaft war.
(Bild: © alexlmx – Fotolia.com)[:]