Die für eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten nötige Erkennbarkeit einer Person kann bei nicht namentlicher Berichterstattung fehlen, wenn kein regionaler Bezug zwischen der Meldung und dem Leserkreis des Mediums gegeben ist. Das hat das Oberlandesgericht Dresden entschieden (OLG Dresden, Urteil v. 25.01.2022, Az. 4 U 2052/21).
In dem Fall stritten ein regionales Newsportal, das in zehn Städten eigene Redaktionen hat und lokale Kanäle betreibt, und die von der Berichterstattung betroffene Klägerin. Diese nahm das Newsportal im Zusammenhang mit einem veröffentlichen Artikel auf Unterlassung in Anspruch. Das Landgericht entschied, die Beklagte habe keine unwahren Tatsachenbehauptungen aufgestellt, sondern lediglich über Verdachtsmomente berichtet. Ob eine zulässige Verdachtsberichterstattung vorliege, könne deshalb dahinstehen. Die Kläger sei nicht namentlich genannt worden und auch ansonsten nicht erkennbar dargestellt. Die Klägerin werde im Artikel nicht neben der Leiterin der Einrichtung als eine der Erzieherinnen zum Gegenstand von Vorwürfen gemacht.
Namensabkürzung nicht ausreichend
Die Klägerin vertrat in der Berufung die Auffassung, das Landgericht habe ihre Erkennbarkeit in der streitgegenständlichen Berichterstattung rechtsfehlerhaft verneint.
Übermittlung von Teilinformationen kann zu Erkennbarkeit führen
Eine Erkennbarkeit setze eine vollständige oder auch nur abgekürzte Namensnennung nicht voraus, führt das OLG Dresden in seinem Urteil aus. Vielmehr reiche die Übermittlung von Teilinformationen aus, aufgrund derer der Betroffene Anlass habe anzunehmen, er könne innerhalb eines mehr oder minder großen Bekanntenkreises erkannt werden.
Das OLG erteilt in seiner Entscheidung einer Ausdehnung des Begriffs der Erkennbarkeit eine Absage. Eine solche stelle eine erhebliche Beeinträchtigung des Rechts auf freie Berichterstattung dar, weil in den Fällen, in denen eine identifizierende Berichterstattung wegen der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen nicht möglich wäre, eine anonymisierte Berichterstattung rechtlich faktisch ausgeschlossen wäre. Denn es sei „theoretisch immer möglich ist, dass mit den Umständen des Einzelfalls vertraute Dritte bei eingehender Recherche einen Rückschluss auf den Betroffenen ziehen könnten“.
Ermittlung der Identität durch interessierten Leser reicht nicht für Erkennbarkeit
Einen begründeten Anlass anzunehmen, gerade aufgrund der Berichterstattung des Newsportals erkannt zu werden, habe die Klägerin nicht gehabt. Dass irgendjemand aus dem Bekanntenkreis der Klägerin die Berichterstattung der Beklagten gleichwohl tatsächlich zur Kenntnis genommen hätte, habe die Klägerin nicht behauptet. Ihr Anwalt habe in der mündlichen Verhandlung jedoch erklärt, die Klägerin selbst habe nach Erscheinen der Artikel in zwei Zeitungen eine Internetrecherche durchgeführt und sei dabei auf die Berichterstattung der Beklagten gestoßen.
Keine Erkennbarkeit bei fehlendem Bezug zwischen Meldung und Leserkreis
Nach Auffassung des Senats ist entscheidend, ob die Äußerung sich auf einen Umstand bezieht, der einen räumlichen Bezug zum Erscheinungsort oder Verbreitungsgebiet aufweist. Dies gelte sowohl für die Frage, wo bei einer Internetberichterstattung der deliktische Gerichtsstand im Sinne von § 32 der Zivilprozessordnung liegt, aber auch für die Frage, ob eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts wegen der erkennbaren Darstellung einer Person vorliegt. Eine Erkennbarkeit verneinte der OLG-Senat für den konkreten Fall.
Keine Prangerwirkung
In dem Verfahren ging es außerdem um die Frage, ob sich das Newsportal mit seiner zulässigen Verdachtsberichterstattung Drittäußerungen zu eigen machte. Das OLG Dresden verweist hier in seinem Urteil darauf, dass die Klägerin nicht namentlich erwähnt wurde. Dass auch eine anonymisierte Berichterstattung wegen des kleinen Kreises von Mitarbeitern der Einrichtung dazu führe, dass die Klägerin mit diesen Vorwürfen konfrontiert werde, ändere daran nichts, führt das Urteil aus.
Vorwürfe von Zwangsernährung in Kindertagesstätten beträfen einen Umstand von hinreichendem Gewicht für eine Verdachtsberichterstattung, heißt es im Urteil weiter. Der Artikel sei durchweg in neutralem Ton und im Konjunktiv gehalten. Er mache hinreichend deutlich, dass es sich nicht um bewiesene Vorwürfe handelt, auch wenn entlastende Umstände nicht mitgeteilt würden. Eine Prangerwirkung sei aufgrund der Berichterstattung des Newsportals nicht zu befürchten.
Bestätigung des ‚Agenturprivilegs‘
Der OLG-Senat befasste sich außerdem mit dem Vorwurf der Klägerin, das Newsportal habe eigene Recherchen unterlassen und sich allein auf eine Agenturmeldung und Informationen eines Erzbistums verlassen.
Überregionale Tageszeitungen seien auf die Übernahme von Agentur- und sonstigen Meldungen angewiesen – „weitgehend ohne eigene zusätzliche Prüfung“, so das OLG-Urteil. Stamme die Meldung von einer anerkannten Agentur, besteht im Allgemeinen keine Verpflichtung zur Nachrecherche, solange die Meldung keine Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit aufkommen lässt. Werde in der Meldung als einzige Quelle eine andere Zeitung genannt, könnten weitere Recherchen in Betracht kommen.
Erzbistum mit erhöhter Glaubwürdigkeit
Zwar habe der ehemalige Arbeitgeber der Klägerin über deren Kündigung nicht unbefangen unterrichten können. Doch handele es sich „bei einem Erzbistum um eine Körperschaft öffentlichen Rechts“, der das Newsportal „erhöhte Glaubwürdigkeit“ habe beimessen dürfen.
Die Entscheidung des OLG Dresden stärkt das sogenannte Agenturprivileg und gibt der Pressefreiheit bei der Verdachtsberichterstattung Vorrang gegenüber Persönlichkeitsrechten, wenn ein öffentliches Interesse gegeben ist.