Das Urteil des Landgerichts Berlin zu Renate Künast mag juristisch vertretbar sein – für die Kommunikationskultur in den Sozialen Netzen ist es das falsche Signal.
Was nicht verboten ist, das ist erlaubt. Was erlaubt ist, kann so schlecht nicht sein. Und was nicht schlecht ist, das ist gut. Die gedankliche Brücke vom Recht zur Moral ist schnell geschlagen. Das gerade noch Nicht-Verbotene wird damit zur Richtschnur fürs Alltagshandeln, vor allem dann, wenn strengere moralische Regeln entweder nicht bekannt sind oder aber bewusst verworfen wurden.
Die Zeiten, in denen das Minimum der normativen Forderung regelmäßig schon deswegen erfüllt wurde, weil man ein hohes moralisches Ideal anstrebte, sind vorbei. Wenn es sie denn je gegeben hat, diese Zeiten; ein allgemeiner Kulturpessimismus, der nur den Sittenverfall sieht, nicht aber die Verbesserungen in vielen Bereichen des Lebens, wäre auch fehl am Platz. Früher war nicht alles besser.
Dennoch: „Es gehört sich nicht!“, ist heute kein Grund mehr, sein Verhalten zu ändern. In meiner Kindheit – und die ist jetzt noch nicht ewig her – war das der Schlussstrich unter gewissem Tun. Autoritativ – ja. Aber akzeptiert. Heute kommt die Rückfrage: „Ist es denn verboten?!“ Das ist im einzelnen auszuhandeln und obliegt den Gerichten. Wenn diese nun signalisieren: „Nein, nein – das nicht!“, setzt es die eingangs genannte Assoziation frei. Ergebnis: „Na, dann!“ In Sachen Kommunikation wird dann weiter gepöbelt und gehetzt. Zum Beispiel im Facebook.
„Nicht verboten!“ = „Gut gemacht!“?
Das falsche Signal kam diesmal von – für Berliner Verhältnisse – recht hoher Stelle: Es war kein Amtsgericht, wie vor einigen Jahren, als das AG Berlin-Tiergarten in „Kinderfickersekte“ keine den öffentlichen Frieden gefährdende Beleidigung der Katholischen Kirche nach § 166 StGB sah (AG Tiergarten, Beschluss v. 06.02.2012, Az. 263b Ds 228/11), es war das Landgericht Berlin, das nun in „Drecks Fotze“, „Sondermüll“, „Schlampe“ und „Stück Scheiße“ keine Beleidigung der Renate Künast nach § 185 StGB sah (LG Berlin, Beschluss v. 19.09.2019, Az. 27 AR 17/19), weil und soweit (hier decken sich die Beschlüsse argumentativ) das „Empörungspotential“ des Themas eben so hoch sei, dass der Meinungsfreiheit auch bei solch wüsten Verbalausfällen der Vorrang gegenüber dem Schutzinteresse von Kirche und Künast eingeräumt werden müsse.
Eins ist dabei klar: Es gibt in der Tat wohl kaum einen Menschen, den sexueller Kindesmissbrauch nicht empört, oder auch ein Kokettieren mit möglichen Grauzonen eines „freiwilligen“ sexuellen Kontakts von Erwachsenen mit Kindern. Doch das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist vielmehr der, dass mit dem Verweis auf das „Empörungspotential“ eine Spirale verbaler Gewalt gerechtfertigt wird. Und die ist in der Kommunikation auf Facebook deutlich zu bemerken. Mit den Beschlüssen wird nolens volens – weit über den Einzelfall hinaus – ein Klima von Hass und Hetze perpetuiert.
Die Notwendigkeit, eine mögliche Beschleunigung der „Schrei-Spirale“ rechtzeitig zu unterbinden, ist wieder nicht gesehen worden. Man kann argumentieren, die Justiz habe keinen Erziehungsauftrag. Aber wenn sie immer wieder den Krawall im Netz durchwinkt, unterschätzt sie ihre Rolle für die Gesellschaft, weil sie damit üble Hetze formal bestätigt – und damit zugleich die Hetzer in ihrer irrigen Annahme, „Nicht verboten!“ sei ein Synonym für „Gut gemacht!“.
Der Beitrag stammt von unserem freien Autor Josef Bordat. Er ist Teil unserer Reihe “Berichte aus der Parallelwelt”. Dort werfen Autoren aus anderen Fachbereichen einen Blick auf die Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis. Die Beiträge betrachten, anders als unsere sonstigen Fachbeiträge Begebenheiten und Rechtsfälle daher auch nicht juristisch, sondern aus einem völlig anderen Blickwinkel. Aus welchem, das soll der Beurteilung der Leser überlassen bleiben. Interessant wird es, wie wir meinen, allemal.