Der nunmehr bestätigte ursprüngliche Beschluss des Landgerichts Hamburg in der Sache Erdogan ./. Böhmermann im vorherigen Eilverfahren (vgl. LG Hamburg: Beschl. v. 17.05.2106, Az. 324 O 255/16) war nach unserer klaren Rechtsauffassung bereits falsch und das Schmähgedicht mitsamt seiner Gesamtinszenierung hätte dementsprechend als zulässige Satire auch nicht im heutigen Urteil verboten werden dürfen. Dies hatten wir im Zusammenhang mit der Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und unter Verweis auf vorherige Stellungnahmen bereits an dieser Stelle erläutert. Der entscheidende Prüfungspunkt im Urteil liegt unter umfassender Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverfassungsgrichts und des Bundesgerichtshofs bei der Frage einer Verletzung der Menschenwürde.
Absoluter Schutz der Menschenwürde
Zu prüfen ist, ob das Schmähgedicht die Menschenwürde von Präsident Erdogan verletzt. Bei der nach Art. 1 Abs. 1 geschützten Menschenwürde handelt es sich um ein absolut geschütztes Grundrecht, das den Kern der menschlichen Ehre betrifft. Die Verfassung sieht für die Menschenwürde einen überragenden Schutz vor, sobald ein unzulässiger Eingriff in die Menschenwürde festgestellt wird, liegt immer auch eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts vor, die durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt sein kann (vgl. BVerGE 67, 213, 228).
Strenge Voraussetzungen für eine Verletzung der Menschenwürde
Aufgrund dieses unbedingten Schutzes sind die Voraussetzungen für eine solche Verletzung der Menschenwürde sehr streng. Eine bloße Verletzung der Ehre einer Person reicht daher nicht aus für eine Einordnung als Angriff auf die Menschenwürde. Für ein Durchschlagen auf die unantastbare Menschenwürde ist es vielmehr erforderlich, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der Gesellschaft abgesprochen und sie damit als unterwertiges Wesen behandelt wird (vgl. hierzu: BVerfG, Beschl. v. 04.02.2010 – 1 BvR 371/04, Rn. 28).
Übertragung der Voraussetzungen auf den Fall Erdogan ./. Böhmermann
Für das für heutige Urteil waren also die folgenden Fragen von wesentlicher Bedeutung:
Wird Erdogan sein Lebensrecht als gleichwertige Person in der Gesellschaft abgesprochen und liegt eine damit einhergehende bewusste Behandlung als unterwertiges Wesen vor?
Zur Beantwortung dieser Fragen muss man den kompletten Gedichtbeitrag wiederum in seinen Gesamtkontext stellen und den Aussagekern unabhängig von der konkreten satirischen Einkleidung herausarbeiten: Der Anlass des Schmähgedichts war Erdogans Umgang mit einem zulässigen Satirebeitrag bei „extra 3“ über ihn als türkisches Staatsoberhaupt. Er wollte diesen Beitrag untersagen, weil der Beitrag nach seinem ganz persönlichen und exklusiven Empfinden unzulässig war. Das Schmähgedicht greift genau diese Haltung Erdogans auf und übt in überzogener und satirischer Form Kritik an dieser konkreten Interpretation und Ausübung von staatlicher Gewalt durch den türkischen Staatspräsidenten. Als Reaktion auf Erdogans Umgang mit einem zulässigen Satirebeitrag, zeigt das Schmähgedicht ihm auf, wann die Grenze zur Unzulässigkeit entgegen seines Empfindens tatsächlich überschritten ist und eine entsprechende Reaktion angemessen gewesen wäre.
Warum das Schmähgedicht gerade so heftig sein musste
Die Heftigkeit des Schmähgedichts mit seinen abgrundtief beleidigenden Versen ist dabei zunächst einmal die satirische Einkleidung dieser Kritik. Darüber hinaus ist der übelst beleidigende Inhalt des Schmähgedichts aber gerade auch Mittel zum Zweck, weil die Persönlichkeitsverletzungen in den Versen zwangsläufig so eindeutig und klar sein müssen, dass es keinerlei Diskussion um eine mögliche Zulässigkeit der mehr als holprigen Reime mehr geben darf. Ansonsten wäre das Aufzeigen der Überschreitung der Grenze zur Unzulässigkeit wertlos und verschwommen. Erdogan sollte durch die Übertreibungen des Schmähgedichts sein eigenes Missverständnis in Bezug auf die rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit gerade in entsprechend umissverständlicher Form veranschaulicht werden.
Das Schmähgedicht zeigte somit mit den Mitteln der Abgrenzung und der Übertreibung dem türkischen Präsidenten – und letztlich im Rahmen des anschließenden öffentlichen Diskurses auch der gesamten Öffentlichkeit – auf, wann Äußerungen in Deutschland nach den rechtlichen Vorgaben, im Gegensatz zum „extra 3“-Beitrag, eindeutig nicht mehr hingenommen werden müssen. In welchen Fällen also ein entsprechender Zensurversuch des türkischen Präsidenten legitim gewesen wäre.
Kurz: Das Schmähgedicht bedient sich letztlich gerade den strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, um eine eindeutige Überschreitung der Zulässigkeit im Wege der Abgrenzung zum zulässigen „extra 3“-Beitrag aufzuzeigen. Das Schmähgedicht hätte seine Wirkung verfehlt, wenn der beeinträchtigende Inhalt weniger klar rechtsverletzend gewesen wäre.
Das Bundesverfassungsgericht und die Strauß-Karikaturen
Im Zusammenhang mit der Frage, ob das Schmähgedicht dennoch eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, wird dann regelmäßig die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zu den Strauß-Karikaturen aus dem Jahr 1987 herangezogen, um deutlich zumachen, dass auch das Schmähgedicht eine entsprechende Verletzung der Menschenwürde darstelle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.06.1987 1 BvR 313/85) .
Nach dieser populären, aber kritisch zu beurteilenden Entscheidung griffen die damals streitgegenständlichen Karikaturen, die u. a. Strauß als kopulierendes Schwein mit einem eine richterliche Amtstracht tragenden Schwein zeigten, in den durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern der menschlichen Ehre ein. Die Feststellung eines solchen Eingriffs bedeutete aufgrund des eingangs aufgezeigten absoluten Schutzes gleichzeitig unausweichlich, dass die Karikaturen nicht mehr durch die Freiheit der künstlerischen Betätigung des Karikaturisten nach Art. 5 Abs. 3 GG gedeckt sein konnten.
Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Wie aufgezeigt, musste auch im damaligen Verfahren der Aussagekern der satirischen Darstellung herausgearbeitet werden. Nach der damaligen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts lag der Aussagekern der Strauß-Karikaturen gerade darin, die „tierischen“ Verhaltens- und Wesenszüge von Strauß aufzeigen zu wollen. Die Darstellung dieses der tatsächlichen Person zuzuordnenden sexuellen Verhaltens betreffe die Intimsphäre und entkleide Strauß damit in seiner Würde als Mensch (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.06.1987 1 BvR 313/85).
Ein solcher Aussagekern erscheint äußerst fragwürdig und die damalige Wertung des Bundesverfassungsgerichts darf dementsprechend auch mit Nachdruck hinterfragt werden: Aussagekern des damaligen Karikaturisten und Beschwerdeführers war vielmehr seine Kritik an der besonders engen und daher bedenklichen Beziehung zwischen Strauß und der Justiz, die er in der satirischen Einkleidung seiner Karikaturen in entsprechend heftiger Form zum Ausdruck brachte.
Keine Verletzung der Menschenwürde Erdogans durch das Schmähgedicht
Die Herausarbeitung des zutreffenden Aussagekerns hätte im damaligen Fall wohl zur Feststellung der Zulässigkeit der Strauß-Karikaturen geführt. Im Fall des Schmähgedichts kommt man ebenfalls Ergebnis einer zulässigen Satire:
Für ein Durchschlagen auf die unantastbare Menschenwürde wäre es, wie oben aufgezeigt, erforderlich, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der Gesellschaft abgesprochen und sie damit als unterwertiges Wesen behandelt würde. Böhmermann wollte Erdogan aber gar nicht sein Lebensrecht als gleichwertige Person in der Gesellschaft absprechen und ihn bewusst als unterwertiges Wesen behandeln. Ganz im Gegenteil:
Böhmermann wollte Erdogan gerade sein vorheriges Missverständnis und Fehlverhalten aufzeigen und ihm hierdurch letztlich sogar die Möglichkeit geben, künftig seine dem Lebensrecht entspringenden Persönlichkeitsrechte unter Berücksichtigung der Grenzen der Meinungsfreiheit zutreffend als gleichwertige Person in der Gesellschaft einzuordnen und wahrzunehmen: Das Schmähgedicht als (heftiger) Impuls zur Korrektur einer zuvor falschen Einstellung zu den Grenzen der Meinungsfreiheit.
Erforderlichkeit der Beurteilung des Schmähgedichts mitsamt seiner Inszenierung als Gesamtwerk
Das Schmähgedicht war damit im Ergebnis mitsamt seiner Inszenierung als Gesamtwerk zulässig, weshalb die Klage von Erdogan letztlich abzuweisen sein wird. Dieses zutreffende Ergebnis hat das Landgericht Hamburg bereits in der vorhergehenden Entscheidung im Eilverfahren (vgl. LG Hamburg: Beschl. v. 17.05.2106, Az. 324 O 255/16) verkannt und nunmehr ebenso falsch noch einmal bestätigt: Nach unzutreffender Ansicht des Landgerichts Hamburg war das Schmähgedicht überwiegend rechtsverletzend, 18 von 24 Zeilen seien unzulässig und wurden entsprechend verboten.
Der übrig bleibende Rest hingegen sei zulässig, weil er sich satirisch mit aktuellen Vorgängen in der Türkei auseinandersetze und Erdogan sich als Staatsoberhaupt harsche Kritik an seiner Politik gefallen lassen müsse.
Übrig bleibt nach dieser Aufteilung in „zulässsig“ und „unzulässig“ dann der folgende Resttext:
Sackdoof, feige und verklemmt,
ist Erdogan, der Präsident.
(Zeilen 3 und 4 verboten)
Er ist der Mann, der Mädchen schlägt
Und dabei Gummimasken trägt.
(Zeile 7 verboten)
und Minderheiten unterdrücken,
Kurden treten, Christen hauen
(Zeile 10 bis 24 verboten).
Dieses Ergebnis der Hamburger Rechtsfindung wurde dann zudem nach der Entscheidung im Eilverfahren auch noch auf der Homepage des Gerichts als Anhang zur Pressemitteilung veröffentlicht, wobei gerade auch die verbotenen Zeilen rot gekennzeichnet veröffentlicht wurden. Man könnte fast annehmen, dass es sich hierbei um die Satire einer Satire handelt.
Eine isolierte Bewertung einzelner Zeilen ist unzulässig
Das Verbot einzelner Zeilen und die damit einhergehende isolierte Zulässigkeit der übrigen Zeilen führt aber zu einer Auflösung der metrischen Einheit des Schmähgedichts und übersieht zudem die weitere Gesamtinszenierung des Gedichts in der Sendung. Dies ist nach den klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts schlicht und einfach nicht erlaubt:
„Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig. Ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks. Es verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind“ (BVerfG, Beschl. v. 17.07.1984, Az. 1 BvR 816/82).
Das Schmähgedicht muss damit in seiner Gesamtheit, das bedeutet mitsamt der konkreten Präsentation in der Sendung verboten oder zugelassen werden. Das Landgericht Hamburg hatte nun die Gelegenheit, die Fehler der Entscheidung aus dem einstweiligen Verfügungsverfahren zu korrigieren. Da es diese Gelegenheit mit seinem heutigen Urteil nicht wahrgenommen hat, wird danach das Hanseatische Oberlandesgericht diese Gelegenheit bekommen. Der Rechtstreit wird ohne jeglichen Zweifel in die Berufungsinstanz gehen und höchstwahrscheinlich auch dort noch nicht sein Ende finden. (ha)[:]