Audiatur et altera pars – Man höre auch den anderen Teil.
Der bekannte römische Rechtsgrundsatz, der zuvor bereits im antiken Griechenland galt, gilt auch bei uns.
Und das bereits seit dem Mittelalter: „Enes Mannes Rede ist nur die halbe Rede, / man soll sie billig hören beede“.
Heute ist das Prinzip gerechter Prozessführung Verfassungsrecht: Jeder Mensch hat in Deutschland Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
Grundrechtgleiches Recht
Der Anspruch erstreckt sich darauf, vor Gericht in einer ihn (oder sie) betreffenden Angelegenheit gehört zu werden. Das umfasst einerseits das Recht, zu der verhandelten Sache mindestens einmal schriftlich oder mündlich Stellung zu nehmen, und andererseits den Anspruch darauf, dass das Gericht diese Stellungnahme zur Kenntnis nimmt, erwägt und im Falle rechtlicher Relevanz bei der Entscheidung berücksichtigt.
Dieser Grundsatz gilt für jeden Menschen, der an einem Gerichtsverfahren in irgendeiner Form beteiligt ist, und er gilt vor jedem deutschen Gericht. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein grundrechtgleiches Recht, er wirkt sich also aus wie ein Grundrecht, was etwa bedeutet, dass man sich auch hier gegen mögliche Verletzungen mit einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht wehren kann.
Befristung und Wartepflicht
Freilich gilt dieses Grundrecht nicht unbegrenzt. Gerichte dürfen – der Endlichkeit alles Irdischen unterworfen – Fristen setzen, d.h. sie dürfen ein Datum benennen, bis zu dem die betreffende Person sich zur fraglichen Sache äußern kann. Lässt diese die Frist verstreichen, so verzichtet sie darauf, in diesem Fall von ihren Anspruch auf rechtliches Gehör Gebrauch zu machen.
Wartet das Gericht jedoch die selbst gesetzte Frist nicht ab, verletzt sie diesen Anspruch. Das entschied der Bundesgerichtshof (BGH, Beschluss vom 19. November 2019, Az. VI ZR 215/19). In dem vorliegenden Fall hätte das Berufungsgericht den Fristablauf nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen abwarten müssen.
Möglicherweise andere Entscheidung
Das Berufungsurteil beruhe somit auf einer „Gehörsverletzung“. Es könne nicht ausgeschlossen werden, so der BGH, dass das Berufungsgericht bei Abwarten des Ablaufs der Äußerungsfrist zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre. Pikanterweise enthielt die Stellungnahme, auf die das OLG Nürnberg nicht warten wollte, auch einen Befangenheitsantrag gegen die erkennenden Richter.
Der Beitrag stammt von unserem freien Autor Josef Bordat. Er ist Teil unserer Reihe “Berichte aus der Parallelwelt”. Dort werfen Autoren aus anderen Fachbereichen einen Blick auf die Rechtswissenschaft in Theorie und Praxis. Die Beiträge betrachten, anders als unsere sonstigen Fachbeiträge Begebenheiten und Rechtsfälle daher auch nicht juristisch, sondern aus einem völlig anderen Blickwinkel. Aus welchem, das soll der Beurteilung der Leser überlassen bleiben. Interessant wird es, wie wir meinen, allemal.