Diese Einschätzung reicht nicht aus, um das gesamte Ergebnis einer mündlichen Prüfung im zweiten Staatsexamen für ungültig zu erklären. Wie jurabilis berichtet, hat das Oberverwaltungsgericht Koblenz aktuell eine entsprechende erstinstanzliche Entscheidung bestätigt. (OVG Koblenz, Urteil v. 3.2.2012, Az. 10 A 11083/11).
Nachdem die Klägerin im schriftlichen Teil des zweiten juristischen Staatsexamens einen knapp ausreichenden Notendurchschnitt erzielt hatte, legte sie die mündliche Prüfung im Wahlfach Steuerrecht ab. Die Prüfungskommission wertete ihren Aktenvortrag mit 16 Punkten („sehr gut“). Derselbe Aktenvortrag war Prüfungsgegenstand einer weiteren Prüfung am gleichen Tage, in welcher der Lebensgefährte der Klägerin Prüfer war. Er hatte den Aktenvortrag schon vor dem Prüfungstag erhalten. In der Folgezeit wurde an das Prüfungsamt die Mutmaßung herangetragen, der Klägerin könnte der Aktenvortrag bekannt gewesen sein. Daraufhin hob das Landesprüfungsamt die mündliche Prüfung insgesamt auf und ordnete deren Wiederholung an. Der hiergegen erhobenen Klage gab das Verwaltungsgericht statt. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
Wahrscheinlich darf dem Juristen meist nicht reichen
Unseres Erachtens eine richtige Entscheidung. Auch wenn der Fall ein „Geschmäckle“ haben mag, dürfen bloße Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten nicht dazu führen, dass der Betroffene auf einmal darlegen und beweisen muss, nicht getäuscht zu haben.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist nicht nur für mitlesende Rechtsreferendare interessant, die sich darüber informieren wollen, ob es sich lohnen kann, gegen aus ihrer Sicht fehlerhafte Entscheidungen vorzugehen. Auch Rechtsanwälte, die die oft traumatischen Erlebnisse in juristischen Prüfungssituation bereits hinter sich gelassen haben, dürften hier nochmals aufhorchen.
Tut es aber immer öfter
Kollegen werden bestätigen, dass mit Bestehen der Zweiten Staatsprüfung und Zulassung zur Rechtsanwaltschaft die Zeit der unverständlichen, wenn nicht sogar willkürlichen Entscheidungen von mit Macht ausgestatteten Personen überhaupt erst richtig losgeht.
Im vorliegenden Fall haben die Gerichte die falsche Entscheidung des Prüfungsamts zwar korrigiert. Es kommt aber nicht selten vor, dass auch höhere Instanzen Entscheidungen nicht nach dem Sach- und Streitstand und nach der Verteilung von Darlegungs- und Beweislast treffen, sondern nach Wahrscheinlichkeiten oder dem so genannten Schweinehundprinzip.
Im Zivilprozess muss aber grundsätzlich bewiesen (dem Richter die vollständige persönliche Überzeugung von der Richtigkeit der Tatsachenbehauptung verschafft) werden. Nur in bestimmten Fällen, zum Beispiel im Falle der einstweiligen Verfügung reicht es aus, wenn die Behauptete Tatsache nach Überzeugung des Richters zumindest überwiegend wahrscheinlich ist.
Je mehr Erfahrungen ich in meinem Beruf sammele, umso mehr habe ich das Gefühl, dass diese theoretischen Vorgaben in der gerichtlichen Praxis teils aus Bequemlichkeit teils aus Zeitmangel vernachlässigt werden.
Wahrscheinlich täusche ich mich da auch. (la)