Das Landgericht München I hat in einer einstweiligen Verfügung vom 14.1.2021 beschlossen, dass Amazon die Sperre eines Verkäuferkontos unverzüglich aufheben sowie vorhandenes, einbehaltenes Guthaben auf dem Konto umgehend freigeben muss.
Das Landgericht hat die Verfügung auf Widerspruch nach einer mündlichen Verhandlung per Urteil vom 12.5.2021 wieder aufgehoben, siehe UPDATE unten.
Amazon hatte dem Händler ohne nähere Begründung vorgeworfen, Kundenrezensionen für seine Produkte manipuliert zu haben. Die Vorwürfe waren mangels entsprechender Informationen nicht nachprüfbar.
Obwohl die Vorwürfe ausweislich der Deaktivierungsmitteilung offenkundig bestenfalls auf vagen Verdachtsmomenten basierten, hat Amazon mit sofortiger Wirkung das Händlerkonto deaktiviert, alle Angebote gelöscht und das gesamte Guthaben auf seinem Konto „eingefroren“.
Zu Unrecht, wie das Landgericht München I nun entschied (LG München I, Beschluss v. 14.1.2021, Az. 37 O 32/21, nicht rechtskräftig, noch nicht zugestellt, hier als PDF abrufbar).
Dass Amazon-Händler zu Unrecht sperrt, haben schon zahlreiche Gerichte festgestellt. Das Besondere an der aktuellen Entscheidung ist, dass sie auf Kartellrecht und auf den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gestützt ist.
Amazon sperrt Verkäuferkonto und löscht alle Angebote
Die Antragstellerin war bei Amazon als Verkäuferin angemeldet und erzielte dort einen jährlichen Umsatz von fast 1 Million Euro. Anfang Dezember 2020 erhielt die Antragstellerin eine E-Mail, in der mitgeteilt wurde, dass ihr Amazon.de-Verkäuferkonto deaktiviert und alle Angebote von der Website entfernt worden seien. Guthaben werde nicht ausgezahlt, sondern würden zunächst eingefroren.
Amazon begründete die Sperrung nicht nachvollziehbar
Als Begründung gab Amazon an, dass die Antragstellerin Kundenrezensionen für ihre Produkte “manipuliert” habe. Um welche Rezensionen es sich dabei handeln sollte, teilte man nicht mit. Die Antragstellerin konnte damit nicht mehr uneingeschränkt auf Ihr Konto zugreifen, sie konnte keine Angebote einstellen und auf das ihr zustehende Guthaben nicht zugreifen. Jeden Tag entgingen ihr tausende von Euro Umsatz, ohne die Möglichkeit, sich gegenüber Amazon zu rechtfertigen.
LG München I verfügt sofortige Entsperrung
Die Vorwürfe trafen nicht zu. Nachdem eine außergerichtliche Aufforderung, die Antragstellerin umgehend wieder freizuschalten, die gelöschten Angebote wieder herzustellen und auch das Guthaben freizugeben, ohne Erfolg geblieben war, erließ das Landgericht München I am 14.1.2021 die besagte einstweilige Verfügung.
Danach hat Amazon es bei Meidung eines Ordnungsgeld von bis zu 250.000,00 € oder der Ordnungshaft von bis zu 6 Monaten es – vereinfacht gesagt –, zu unterlassen, das Amazon-Verkäuferkonto der Antragstellerin ohne Begründung und ohne Möglichkeit zur Stellungnahme zu deaktivieren, Angebote von der Amazon.de-Webseite zu entfernen oder Guthaben auf ihrem Konto einzubehalten.
Der Streitwert wurde vom Landgericht mit 100.000 € festgesetzt. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, sie ist Amazon noch nicht zugestellt worden und kann mit dem Widerspruch angegriffen werden. Daneben steht Amazon auch die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens offen.
Paukenschlag: Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
Während bereits einige Landgerichte die Rechtswidrigkeit von unvermittelten Kontensperrungen durch Amazon festgestellt – unter anderem aufgrund entsprechender Anträge von LHR Rechtsanwälte – und diese per einstweiliger Verfügung verboten haben, hat die vorliegende Entscheidung eine neue Qualität und stärkt die Rechte von Online-Händlern erheblich. Für Amazon wird die Luft deutlich dünner.
Anders als die Entscheidungen in der Vergangenheit ist die Unterlassungsverfügung vom Landgericht nunmehr explizit auf Kartellrecht (§§ 33 Abs. 1 i.V.m. 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB) gestützt worden.
Das Gericht war mit der Antragstellerin der Auffassung, dass Amazon eine marktbeherrschende Stellung auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt der Erbringung von Dienstleistungen von Onlinemarktplätzen gegenüber Onlinehändlern hat. Das Gericht hat dazu – zu Recht – den ersten Anschein ausreichen lassen, der sich aus den umfangreichen Ermittlungen des Bundeskartellamts aus den Jahren 2018 und 2020 sowie der EU-Kommission aus dem Jahr 2020 und den entsprechenden Feststellungen ergibt.
Das Gericht führt aus:
Zwar hat das Bundeskartellamt in seinem Fallbericht vom 17.7.2019, B2 – 88/18. S. 11, zu den Amazon Geschäftsbedingungen ausdrücklich offen gelassen, ob Amazon eine marktbeherrschende Stellung zukommt. Hierzu seien keine vertieften und abschließenden Ermittlungen geführt worden. Gleichwohl hat das Bundeskartellamt noch im Jahr 2020 erneut ein Verfahren gegen Amazon eröffnet, auch die EU-Kommission geht in ihrer Pressemitteilung vom 10.11.2020 beiläufig und er selbstverständlich von der beherrschenden Stellung der Antragsteller Antragsgegnerin im Bereich der Marktplatzdienste in Frankreich und Deutschland aus.
Amazon muss daher bei der Aufnahme und Beendigung von Geschäftsbeziehungen ein diskriminierungsfreies und von sachlichen Erwägungen getragenes Verhalten an den Tag legen.
Das Gericht hebt hervor, dass ausweislich des Fallberichts des Bundeskartellamts vom 17.7.2019 einer der kritischen Punkte, die Anlass für das Missbrauchsverfahren gegeben hatten, die sofortige Sperrung von Verkäuferkonten ohne jegliche Begründung gewesen war. Ein Verhalten, das Amazon – wie der vorliegende Fall zeigt – offenbar nicht gewillt ist, zu unterlassen.
Amazon haftet für Umsatzausfälle
Als nächstes steht für den Händler an, sich bei Amazon für den entgangenen Umsatz im Zeitraum der unberechtigten Sperrung schadlos zu halten. Anrechnen lassen muss sich der Verkäufer natürlich ersparte Kosten. Für die Zeit, in der er über das gesperrte Guthaben nicht verfügen konnte, stehen ihm zudem Zinszahlungen zu.
Amazon droht Geldbuße bis zu 1 Million €
Was schließlich oft übersehen wird: Der Verstoß kann als Ordnungswidrigkeit gem. §§ 81 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. 81c Abs. 1 S. 1 GWB mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro geahndet werden.
Gem. § 81d sind bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße unter anderem Art und das Ausmaß der Zuwiderhandlung, die Art der Ausführung der Zuwiderhandlung, vorausgegangene Zuwiderhandlungen des Unternehmens sowie vor der Zuwiderhandlung getroffene, angemessene und wirksame Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen und das Bemühen des Unternehmens, die Zuwiderhandlung aufzudecken und den Schaden wiedergutzumachen sowie nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen.
Rechtsanwalt Thomas Herro, Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz und Partner der Kanzlei LHR:
“Für uns war es nur eine Frage der Zeit, bis die marktbeherrschende Stellung Amazons auch vor Gerichten schlüssig vorgetragen bzw. bewiesen werden konnte und Händler mit dem Kartellrecht eine wirksame rechtliche Handhabe haben würden, sich gegen willkürliche Sperrungen zu wehren. Während die Motivation von Amazon verständlich ist, unzuverlässige Händler oder Verkäufer von der Plattform möglichst fernzuhalten, die Produktbeschreibungen oder Rezensionen manipulieren, muss es auf der anderen Seite selbstverständlich sein, dass solche schwerwiegenden Vorwürfe nicht ins Blaue hinein erhoben und Händler nicht ohne nachvollziehbaren Grund gesperrt werden werden dürfen. Amazon wird nun für den entgangenen Gewinn haften müssen. „
(Offenlegung: Unsere Kanzlei hat die Antragstellerin vertreten.)
UPDATE 17.5.2021:
Das Landgericht hat die zunächst erlassene einstweilige Verfügung auf Widerspruch von Amazon nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wieder aufgehoben. Nach Auffassung des Landgerichts war die Sperrung der Antragstellerin – ausnahmsweise – gerechtfertigt.
Die Antragstellerin ist daher in der Sache zunächst unterlegen. Sie prüft zurzeit die Erfolgsaussichten einer Berufung. Aber auch Amazon wird an der Entscheidung keine Freude haben. Denn das Landgericht hat nicht nur die Marktmacht Amazons in den umfangreichen und sorgfältig erstellten Entscheidungsgründen bestätigt, sondern auch, dass die Deaktivierungsbenachrichtigungen in der Regel ungenügend und die – oft gebetsmühlenartig – immer wieder bei Händlern aufgestellten Forderungen nach „Maßnahmenplänen“ unbegründet sind.
Für den Großteil der übrigen von Sperrungen betroffenen Händlern ist die Entscheidung daher ein Lichtblick.
Wir werden das Urteil genau analysieren und zu gegebener Zeit dazu hier weiter berichten.
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