Ein Schadenersatzanspruch, der entsteht, weil jemand als verunglimpfend erachtete Äußerungen über das Internet verbreitet, kann in jedem EU-Mitgliedsstaat eingeklagt werden, in dem der verletzende Inhalt zugänglich ist oder war. Dies hat der Europäische Gerichtshof Ende Dezember entschieden (EuGH, Urteil v. 21.12.2021, Az. C-251/20).
Anlass der EuGH-Entscheidung ist ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Der französische Kassationsgerichthof richtete dieses nach Luxemburg. Die Antragstellerin in dem Verfahren, die tschechische Gesellschaft Gtflix Tv, die audiovisuelle Inhalte für Erwachsene produziert und verbreitet, stritt mit dem Antragsgegner, der seinen Wohnsitz in Ungarn hat und beruflich im selben Bereich tätig ist. Die Antragstellerin warf dem Antragsgegner vor, sich auf verschiedenen Websites verunglimpfend über sie geäußert zu haben. Sie beantragte bei den französischen Gerichten die Entfernung dieser Äußerungen, Richtigstellung sowie Schadenersatz.
Brüssel-Ia-Verordnung: Schadenseintrittsort begründet Zuständigkeit
Die französischen Gerichte des ersten und zweiten Rechtszugs erklärten sich zunächst für unzuständig. Die Antragstellerin verlangte daraufhin die Aufhebung der Entscheidung des französischen Berufungsgerichts. Dieses habe gegen die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel-Ia-Verordnung) verstoßen. Danach seien die Gerichte desjenigen Ortes zuständig, „an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“. Das Berufungsgericht habe die Zuständigkeit französischer Gerichte mit der Begründung ausgeschlossen, dass es nicht ausreiche, dass die als verunglimpfend erachteten Äußerungen im Internet im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts zugänglich seien, sondern dass diese zusätzlich geeignet sein müssten, in dem Zuständigkeitsbereich einen Schaden zu verursachen.
Das französische Gericht legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob das nationale französische Gericht für den Antrag auf Ersatz eines Schadens zuständig sind, der der Antragstellerin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats dieser Gerichte entstanden ist, selbst wenn sie nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.
Ort der Schadensverwirklichung entscheidend
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs erläutert in ihrem Urteil, wie das zuständige Gericht bei Klagen im Zusammenhang mit Schadenersatzforderungen wegen Internetäußerungen das zuständige Gericht zu bestimmen ist. Dies hat zu erfolgen unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs.
Wenn es sowohl um Richtigstellung und Entfernung als auch um Schadenersatz geht, dann kann die klagende Person vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Äußerungen zugänglich sind oder waren, Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihr in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts entstanden sein soll. Selbst dann, wenn diese Gerichte nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs meinte die Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012, wonach die Gerichte des Ortes zuständig sind, „an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“, sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs. Jeder der beiden Orte könne je nach Lage des Falles für die Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses „einen besonders sachgerechten Anhaltspunkt liefern“, so das Urteil.
Klage am Ort der Niederlassung oder des Interessenmittelpunkts
Wenn es um mutmaßliche Verstöße gegen Persönlichkeitsrechte gehe, könne bei den Gerichten des Ortes, an dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet, Klage auf Ersatz des gesamten Schadens erhoben werden. Eine Person könne ihre Klage vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt zugänglich ist oder war. Diese seien dann jedoch nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig, der in dem Land dieses Gerichts verursacht wurde.
Richtigstellung und Entfernung mit Schadenersatz untrennbar verbunden
Ein Antrag auf Richtigstellung von Angaben und Entfernung von Inhalten kann nach dem EuGH-Urteil nur bei dem Gericht gestellt werden, das für die Entscheidung über den gesamten Schadensersatzantrag zuständig ist. Ein solcher Antrag sei nämlich „einheitlich und untrennbar“. Ein Antrag auf Schadenersatz könne sich sowohl auf den vollständigen als auch den teilweisen Ersatz eines Schadens beziehen.
Einfachere Verfolgung von Ansprüchen innerhalb der EU
Das EuGH-Urteil bedeutet eine erhebliche Verbesserung für Geschädigte im Äußerungsrecht. Sie können sich – ganz im Sinne des EU-Binnenmarkts – je nach Fall aussuchen, in welchem Land sie ihre Ansprüche verfolgen möchten und sind nicht auf die Gerichte eines bestimmten EU-Mitgliedsstaats beschränkt. Wie sich die Entscheidung auf Forum-Shopping auswirken wird, wird sich zeigen. Der EuGH führt in seinem Urteil aus, in der EU sei jedes Gericht „durchaus in der Lage“, im Rahmen eines in diesem Mitgliedstaat durchgeführten Verfahrens und in Anbetracht der dort erhobenen Beweise den Eintritt und die Höhe eines geltend gemachten Schadens zu beurteilen.