Zum Fall Böhmermann: Die Zulässigkeit des Schmähgedichts

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[:de]Die „Eilmeldungen“ in der „Causa Böhmermann“ reißen nicht ab. Hat Jan Böhmermann sich strafbar gemacht oder war sein Gedicht mit dem prägnanten Titel „Schmähkritik“ von der Meinungs- und Kunstfreiheit gedeckt? Diese Frage wird aktuell intensiv und allerorts gestellt und auch die Juristen diskutieren äußerst kontrovers.

Während nach unserer Ansicht keine Strafbarkeit vorliegt, weil letztlich die Meinungs- und Kunstfreiheit bei der fraglichen Satire überwiegen, halten andere Kollegen das Gedicht für eindeutig rechtsverletzend. Das Hauptargument dieser Gegenmeinung ist gerade die Anzahl und die Heftigkeit der im Gedicht gewählten Beleidigungen, die letztlich dazu führen würden, dass die Grenze zur  Persönlichkeitsrechtsverletzung klar überschritten sei.

Aber ist das wirklich so? Zur Beantwortung dieser juristisch äußerst schwierigen Frage, lohnt sich ein vertiefender Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Grenzen der Meinungsfreiheit

Zunächst einmal ist festzustellen, dass Satire im Gegensatz zu dem aktuell häufig herangezogenen Zitat von Kurt Tucholsky nicht alles darf. Satire wird von der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG geschützt und diese Freiheit ist in einer Demokratie nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein sehr hohes Gut von ganz wesentlicher Bedeutung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.02.2010 – 1 BvR 371/04).

Die Meinungsfreiheit hat aber auch Grenzen und diese werden unmittelbar in der Verfassung in Art. 5 Abs. 2 GG aufgezeigt. Eine Grenze der Meinungsfreiheit ist dabei das Recht der persönlichen Ehre. Es ist also eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht auf der einen Seite und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite vorzunehmen. Dabei sind die konkreten Umstände des Einzelfalls umfassend zu berücksichtigen.

Die Äußerungen im Gedicht stellen für sich allein betrachtet ohne jeglichen Zweifel heftigste Beleidigungen dar und wären damit auf den ersten Blick eindeutig rechtsverletzend. Unter einer Beleidigung versteht man den Angriff auf die Ehre eines anderen durch die Kundgabe der Missachtung (vgl. Fischer, StGB, § 185, Rn. 4). Der diesbezügliche Prüfungsmaßstab entspricht weitestgehend dem Maßstab bei der Prüfung einer Schmähkritik, so dass auf die diesbezüglichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts abzustellen ist.

Abgrenzung rechtsverletzende Schmähkritik und zulässige Meinungsäußerung

Was also ist Schmähkritik und wann ist die Grenze der zulässigen Meinungsfreiheit hin zu einer unzulässigen Schmähkritik überschritten? Unter Schmähkritik versteht man Äußerungen, die primär auf die Herabsetzung der Person, nicht aber auf eine Auseinandersetzung in der Sache zielen. Das Bundesverfassungsgericht setzt diesbezüglich zunächst grundsätzlich einen strengen Maßstab zugunsten der Meinungsfreiheit an (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.09.2012 – BvR2979/10, Rn. 30). Eine überzogene oder sogar ausfällige Kritik reicht dementsprechend für sich genommen im Zweifelsfall nicht aus, um eine Schmähkritik zu bejahen. Vielmehr muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein weiteres Kriterium hinzukommen, nämlich die im Vordergrund der fraglichen Äußerung stehende persönliche Diffamierung des Betroffenen. Kam es Jan Böhmermann also im vorliegenden Fall primär auf die persönliche Herabsetzung des türkischen Präsidenten an? Bei dieser Prüfung sind immer auch der Anlass und der Kontext der fraglichen Äußerungen zu beachten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.05.2009 – 1 BvR2272/04; BVerfG, Beschl. v. 05.12.2008 – 1 BvR 1318/07).

Hinsichtlich des Anlasses und des Kontexts verweisen wir noch einmal auf unseren ursprünglichen Beitrag zur Diskussion. Anlass des Gedichts war dementsprechend Erdogans Versuch, einen von der Meinungsfreiheit eindeutig gedeckten Satire-Beitrag von „extra 3“ auf politischer Ebene untersagen zu lassen. Der Kontext des Gedichts war damit die Grenze der Meinungsfreiheit in Deutschland sowie die Einflussnahme eines ausländischen Staatsoberhaupts auf diese grundrechtlich geschützte Freiheit. Anders ausgedrückt: Wie weit darf Satire gehen, bis sie das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzt und nicht mehr hingenommen werden muss?

Damit hat das Gedicht im Gesamtzusammenhang einen klaren Sachbezug. Böhmermann suchte mit seinem Gedicht ohne Zweifel zumindest auch diese Auseinandersetzung in der Sache. In Abgrenzung dazu ist das wesentliche Merkmal der rechtsverletzenden Schmähung nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eine, das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende, persönliche Kränkung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.07.2013 – 1 BvR 444/13, Rn. 21). Hier kommt es also zu einer ersten wichtigen Weichenstellung in der Prüfung der Zulässigkeit des Gedichts, die nach der hier vertretenen Auffassung bereits in Richtung einer Zulässigkeit zu erfolgen hat. Dies liegt neben dem eindeutigen Anlass- und Kontextbezug nicht zuletzt daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich der Schmähkritik in der Praxis entsprechend des restriktiven Prüfungsmaßstabs im Wesentlichen auf den Bereich der sogenannten Privatfehde beschränkt, bei der gerade die persönliche Herabsetzung des Gegenübers in den Vordergrund tritt und der Sachbezug verloren geht. Und das ist vorliegend trotz der äußerst heftigen Beleidigungen nicht der Fall.

Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung

Ein weiteres Argument für die aufgezeigte erste Weichenstellung zugunsten der Meinungsfreiheit kommt wiederum vom Bundesverfassungsgericht. Hiernach spricht eine Vermutung zugunsten der Zulässigkeit, soweit es sich bei den umstrittenen Äußerungen um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung handelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.02.2010 – 1 BvR 371/04, Rn. 24; BVerfG Beschl. v. 12.05.2009 – 1 BvR 2272/04; BVerfGE 7, 198, 208/212; 61, 1 11; 85, 1, 16; BVerfG, Beschl. v. 12.04.1991 – BvR 1088/88, Rn. 14).

Diese ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde auch durch den Bundesgerichtshof bestätigt (BGH, Urt. v. 05.12.2006 – VI ZR 45/05, AfP 2007, 46f.). Dass das Schmähgedicht einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leistet, nämlich hinsichtlich der Frage der Grenzen von Satire und Meinungsfreiheit und dem Umgang von Staatsoberhäupten mit Kritik, kann – unter Berücksichtigung der medialen Aufregung zum Thema – von niemandem ernsthaft bestritten werden. Die damit hinter dem Gedicht stehende Frage der Grenze der Meinungsfreiheit in Deutschland ist nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ohne Zweifel eine „die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage“, so dass die Annahme einer Schmähkritik bereits nur noch ausnahmsweise in Betracht kommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.07.2013 – 1 BvR 1751/12, Rn. 15; BVerfG, Beschl. 24.07.2013 – 1 BvR 444/13, Rn. 21; BVerfG, Beschl. 24.05.2006 – 1 BvR 49/00, Rn. 42; BVerfGE 93, 266, 294).

Rechtsverletzung durch Beleidigungsexzess?

Die Vertreter der gegenteiligen Ansicht wenden an dieser Stelle ein, dass ein einziges Beispiel einer weniger heftigen Beleidigung als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung ja bereits ausreichend gewesen wäre und deshalb ein Beleidungsexzess vorliegen würde. Die große Anzahl und die Heftigkeit der Beleidigungen führen nach dieser Ansicht in der erforderlichen Einzelfallabwägung dann zu einem Vorrang des Persönlichkeitsrechts gegenüber der Meinungsfreiheit. Aber ist das wirklich so? Auch hier hilft ein Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Zunächst ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass es sich hier nicht um beleidigende Äußerungen im gewöhnlichen politischen oder gesellschaftlichen Diskurs handelt. Sprich: Entsprechende Beleidigungen auf einer Kundgebung oder in einer Talkshow wären ohne Zweifel rechtsverletzend. Vorliegend wurden die Beleidigungen aber in einer Satire-Sendung geäußert. Um diesbezüglichen Missverständnissen vorzubeugen, ist diesbezüglich in  der gebotenen Kürze darauf hinzuweisen, dass Böhmermanns mehrfache Hinweise auf die Unzulässigkeit der gereimten Beleidigungen für sich niemals ausreichen, um eine Strafbarkeit zu umgehen. Ansonsten könnten entsprechende Hinweise immer rechtsverletzende Beleidigungen legitimieren.

Mehrstufige Prüfung der Zulässigkeit einer Satire

Es ist vielmehr wiederum auf die besonderen Prüfungsvorgaben des Bundesverfassungsgericht zur Satire abzustellen. Satirische Darstellungen sind demnach einer mehrstufigen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.02.2005 – 1 BvR 240/04, Rn. 17ff.). Im ersten Prüfungsschritt ist der eigentliche Aussagekern der Satire zu ermitteln. Dieser Aussagekern muss also abgetrennt von der satirischen Einkleidung betrachtet werden. Aussagekern des Schmähgedichts ist die Kritik an Erdogans Zensurversuch hinsichtlich des zulässigen „extra3“-Beitrags. Damit betrifft der Aussagekern auch die generelle Haltung des Staatsoberhauptes Erdogan gegenüber Kritik, die sich unter anderem durch sein Vorgehen gegen kritische Medien sowie die sehr große Anzahl von Verfahren wegen Präsidentenbeleidigungen in der Türkei manifestiert. Diese Haltung Erdogans steht durch seine Forderung nach einer Bestrafung von Jan Böhmermann damit aktuell auch in Deutschland im Fokus der Öffentlichkeit und zeigt intensiv das Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht auf. All dies gehört letztlich zum Aussagekern des fraglichen Schmähgedichts. Und dieser Aussagekern ist damit gerade nicht rechstverletzend, vielmehr erscheint eine diesbezügliche Debatte aufgrund der aktuellen Ereignisse als streng geboten.

Problematischer ist aber der zweite Prüfungsschritt des Bundesverfassungsgerichts bei der Satire. Zu prüfen ist dann nämlich die konkrete satirische Einkleidung, also das Schmähgedicht. Die satirische Einkleidung sind damit die massiven Beleidigungen in Versform. Diese heftige Einkleidung erscheint auf den ersten Blick wiederum eindeutig rechtsverletzend. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist auf dieser Prüfungsebene aber gerade ein im Vergleich zur Prüfung des Aussagekerns weniger strenger Maßstab anzuwenden, der im Zweifel zulasten des Persönlichkeitsrechts auszulegen ist. Ausgangspunkt dieses weniger strengen Maßstabs ist die Annahme, dass der Durchschnittszuschauer bei einer Satire gerade mit maßlosen Übertreibungen und Verzerrungen rechnet, weil diese der Satire wesenseigen sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.02.2005  1 BvR 240/04). Und diese Übertreibungen und Verzerrungen dienen im vorliegenden Fall ja auch gerade dem Zweck, das Überschreiten der Grenze zulässigen Meinungsfreiheit in deutlichster Form aufzuzeigen.

Weitere zu berücksichtigende Grundrechte

Aber trotz des weniger strengen Maßstabs, handelt es sich um so schwerwiegende Beleidigungen, die dem türkischen Präsidenten u. a. Sodomie und andere Abartigkeiten zusprechen, dass man durchaus für ein Überwiegen seines Rechts der persönlichen Ehre gegenüber der konkreten Form der satirischen Einkleidung argumentieren könnte. Zu beachten sind an dieser Stelle aber zudem zwei weitere widerstreitende Grundrechte. Zu beachten ist auf der einen Seite das absolut geschützte Grundrecht auf Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und auf der anderen Seite das Grundrecht der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG, das in der Verfassung ebenfalls überragend geschützt wird und nur aufgrund verfassungsimmanenter Schranken begrenzt werden darf. Es ist zunächst zu prüfen, ob diese Grundrechte vorliegend überhaupt zur Anwendung kommen.

Vorliegen einer Verletzung der Menschenwürde?

In Bezug auf die Möglichkeit einer Menschenwürdeverletzung hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass allein die Verletzung der Ehre einer Person nicht für eine Einordnung als Angriff auf die Menschenwürde ausreicht. Aufgrund der Tatsache, dass nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sämtliche Grundrechte als Konkretisierung der Menschenwürde anzusehen sind, bedarf es immer einer besonders sorgfältigen Begründung für die Annahme, dass eine Äußerung über eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts hinaus ausnahmsweise für die Bejahung eines Angriffs auf die Menschenwürde ausreicht. Nach den klaren Vorgaben der verfassungsrechtlichen Rechsprechung ist es für ein solches Durchschlagen auf die unantastbare Menschenwürde erforderlich, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der Gesellschaft abgesprochen und sie damit als unterwertiges Wesen behandelt wird (vgl. hierzu: BVerfG, Beschl. v. 04.02.2010 – 1 BvR 371/04, Rn. 28; BVerfG, Beschl. v. 20.02.2009 – 1 BvR 2266/04; 2620/05; BVerfGE 93, 266, 293). In der Praxis wird eine solche Verletzung der Menschenwürde im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aufgrund dieser strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts daher nur in Ausnahmefällen angenommen.

An diesem Prüfungspunkt ist zu bedenken, dass das Bundesverfassungsgericht und der auch der Bundesgerichtshof  im Falle einer Kritik gerade an der Ausübung staatlicher Gewalt dazu tendieren, der Meinungsfreiheit den Vorrang zu gewähren, weil diese gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik – und damit der Kritik an staatlicher Gewalt – erwachsen sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.05.2009 – 1 BvR 2272/04; BGH, Urt. v. 03.02.2009 – VI ZR 36/07). Auch an dieser Stelle der Prüfung kommen also der Anlass und der Kontext des Schmähgedichts wieder zum Tragen. Böhmermann hat das Gedicht nicht aus heiterm Himmel vorgetragen, um allgemein einmal das politische Handeln des türkischen Präsidenten zu kritisieren. Er hat vielmehr auf das Intervenieren eines staatlichen Oberhaupts gegen einen in Deutschland von der Meinungsfreiehit gedeckten Satire-Beitrag reagiert. Zweck der äußerst heftigen Beleidigungen war damit letztlich gerade nicht das Absprechen des Lebensrechts Erdogans als gleichwertige Person in der Gesellschaft und eine damit einhergehende bewusste Behandlung als unterwertiges Wesen, sondern die Kritik an seiner offensichtlichen Einstellung zur Meinungsfreiheit unter Aufzeigung der Grenzen derselben.

Nochmals: Isoliert betrachtet stellen die widerwärtigen Beleidigungen im Gedicht ohne Zweifel eine solche Verletzung der Menschenwürde dar. Vorliegend erfolgten sie aber in einem Gesamtzusammenhang und bedienten damit die in der aktuellen Diskussion oft genannte Metaebene, auf der Jan Böhmermann dem türkischen Präsidenten auf äußerst drastische Art und Weise aufzeigen wollte, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland liegen und in welchen Fällen in Abgrenzung zum „extra 3“-Beitrag ein Intervenieren des türkischen Präsidenten gerechtfertigt und geboten gewesen wäre. Dazu bediente sich Jan Böhmermann der besonders geschützten Satire in der Form eines massiv überzogenen Schmähgedichts, um über die Mittel der Abgrenzung und Übertreibung die hinter dem Gedicht stehende Aussage möglichst klar aufzuzeigen.

Der äußerst eng gesteckte Bereich einer Verletzung der Menschenwürde im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit wird auch durch folgende Feststellungen des Bundesgerichtshofs unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch weiter präzisiert:

„Da es Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen Reizüberflutung aller Art einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen (BVerfGE 24 S. 278 [286]). Das gilt auch für Äußerungen, die in scharfer und abwertender Kritik bestehen, mit übersteigerter Polemik vorgetragen werden oder in ironischer Weise formuliert sind“, (vgl. BGH, Urt. v. 05.12.2006 – VIZR 45/05, AfP 2007, 46, 47; BGH, Urt. 12.10.1993 – VI ZR 23/93, Rn. 28).

Nach den aufgezeigten Vorgaben der Rechtsprechung ist damit davon auszugehen, dass trotz der im Gedicht vorgertragenen, üblen Beleidigungen ein Durchschlagen auf die unantastbare Menschenwürde vorliegend nicht gegeben ist und der normale Maßstab der Ehrverletzung im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zur Anwendung kommt.

Eröffnung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit?

Zu prüfen ist dann, ob der Schutzbereich der Kunstfreiheit eröffnet ist. Zunächst ist an dieser weiteren entscheidenden Weichenstellung in der Prüfung der Zulässigkeit festzustellen, dass nicht jede Satire automatisch auch Kunst ist. Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich klargestellt, dass das der Satire immanente Element der Verfremdung, Verzerrung und Übertreibung durchaus auch Mittel der einfachen Meinungsäußerung sein kann, ohne dass der Schutzbereich der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG eröffnet ist (vgl. BVerfGE 86, 1, 9). Das Schmähgedicht geht aber nicht nur aufgrund seiner Versform, sondern auch aufgrund des auf der sogenannten Metaebene angesprochenen Gesamtzusammenhangs, sowie dem eingesetzten Mittel der Abgrenzung in Verbindung mit maßloser Übertreibung über eine gewöhnliche Meinungsäußerung hinaus. Kunst muss gerade nicht ästhetisch oder anspruchsvoll sein, Kunst darf auch widerlich und primitiv sein.

Nach dem offenen Kunstbegriff des Bundesverfassungsgerichts ist im Zweifel damit im vorliegenden Fall von einer Eröffnung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit auszugehen. Und in diesem Fall verschiebt sich  der Prüfungsmaßstab bezüglich der Zulässigkeit einer Satire wiederum erheblich zu Lasten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 – 1 BvR 1783/05). Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss zunächst eine besonders schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung gegeben sein, um überhaupt von der Möglichkeit eines Zurücktretens der Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht ausgehen zu können. Dies wird sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Bundesgerichtshof mit der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit begründet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 – 1 BvR 1783/05, Rn. 80; BVerfGE 67, 213, 228; BGH, Urt. v. 21.06.2005 – VI ZR 122/04, Rn. 19). Die ausgesprochenen Beleidigungen im Schmähgedicht stellen für sich betrachtet allesamt schwerwiegende Beeinträchtigungen dar, so dass diese Voraussetzung zunächst als erfüllt anzusehen ist.

Der sogenannte Faktizitätsanspruch

In einem weiteren Prüfungsschritt ist dann aber festzustellen, ob der beanstandete Teil der fragliche Kunstform gegenüber dem Rezipienten einen umfassenden Faktizitätsanspruch erhebt oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in diesem Zusammenhang eine sogenannte kunstspezifische Betrachtung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 1 BvR 1783/05, Rn. 82ff.; BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07, Rn. 11). Einfacher ausgedrückt ist also zu prüfen, ob der konkret beanstandete Teil der Kunstform, hier also die schwerwiegenden Beleidigungen im Gedicht, vom Zuschauer als Schilderung tatsächlicher Geschehnisse aufgefasst wird oder nicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 1 BvR 1783/05, Rn. 99).

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Zuschauer bei der Satire davon ausgehen, dass diese zwar an der Realität anknüpft, dann aber eine durch die besondere satirische Einkleidung eine neue ästhetische Wirklichkeit geschaffen wird. Aus dieser Annahme folgert das Bundesverfassungsgericht zunächst einmal eine Vermutung zugunsten der Fiktionalität, d. h. es ist bereits im Regelfall davon auszugehen, dass eine Kunstform gerade keinen Anspruch auf Faktizität, also auf einen realen Hintergrund, erhebt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 1 BvR 1783/05, Rn. 84.; BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07, Rn. 11).  Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts spricht damit die Vermutung, dass die in der konkreten Kunstform, also vorliegend dem Schmähgedicht, aufgezeigten Handlungen und Eigenschaften einer Person gerade nicht auch dem realen Urbild der geschaffenen Kunstfigur zuzuschreiben sind, zunächst immer für ein Überwiegen der Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 1 BvR 1783/05, Rn. 94.; BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07, Rn. 13). Diese Vermutung gilt nur in den Fällen nicht, in denen der positive Nachweis gelingt, dass gerade der beanstandete Teil der Kunstform vom Zuschauer als Schilderung tatsächlicher Umstände aufgefasst wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.06.2007 1 BvR 1783/05, Rn. 99).  Ein positiver Nachweis, dass die Rezipienten gerade die in Frage stehenden unsäglichen Beleidungen als Darstellung realer Verhältnisse wahrnehmen, wird nicht gelingen. Niemand schreibt diese absurden Beleidigungen aus dem Bereich der Sodomie oder der Pädophilie der realen Person Erdogan tatsächlich zu. Es gab auch niemals irgendwelche Vorwürfe gegenüber der realen Person Erdogan, die in diese Richtung gingen, so dass der Zuschauer den Inhalt der überzogenen Beleidugungen gerade nicht wörtlich nimmt und eine Schilderung tatsächlicher Geschehnisse ausschließt. Die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderliche kunstpezifische Betrachtung des Schmähgedichts führt damit im vorliegenden Fall auch an diesem Punkt zu einem Überwiegen der Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht.

Wechselwirkung zwischen dem Bezug zur Realität und der Eingriffsintensität

Dies wird auch durch die weitergehenden Feststellungen des Bundesverfassungsgericht zum Spannungsverhältnis zwischen der Kunstfreiehit und dem Persönlichkeitsrecht deutlich. Danach ist die Intensität des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht immer in Relation zu setzen zu dem Maß, in dem der Künstler eine von der Wirklichkeit abgelöste Realität geschaffen hat. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts besteht also eine Wechselwirkung zwischen der jeweiligen Eingriffsintensivität und dem Grad an Fiktionalisierung, den die Kunstform aufweist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 – 1 BvR 1533/07). Je stärker sich die in der Kusntform abgetrennte Fiktion also von der tatsächlichen Realität entfernt, desto weniger intensiv wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts.

Und noch einmal andersherum: Je stärker das Abbild des Betroffenen in der konkreten Kunstform mit seinem realen Urbild übereinstimmt, desto schwerer wiegt die persönlichkeitsrechtliche Beeinträchtigung. Durch den Abstand der im Gedicht aufgezeigten Kunstfigur samt der ihr dort zugedachten Eigenschaften und Neigungen zum realen Urbild Erdogans, kommt man zu dem zunächst paradox anmutenden Ergebnis, dass gerade die Absurdität und die damit einhergehende Heftigkeit der Beleidigungen zu einer Schmälerung des Schutzbereichs des Persönlichkeitsrechts zugunsten der Kunstfreiheit führen. Es liegt eine Kunstform ohne Faktizitätsanspruch vor.

Damit ist Wahl der konkreten Beleidigungen nur das künstlerische Mittel, um den übergeordneten Sinn des Gedichts, nämlich die Kritik an Erdogans Umgang mit der Meinungsfreiheit sowie deren tatsächliche Grenzen, möglichst plakativ zu transportieren. Ein Anspruch auf Realitätsnähe haben die Beleidigungen dabei gerade nicht.  So merkwürdig sich dieses Ergebnis zunächst anfühlen mag, es berücksichtigt den über die bloßen Beleidigungen hinausgehenden Kontext der Satire. Die konkrete künstlerische Gestaltung des Stoffs sowie seine Ein- und Unterordnung in den „Gesamtorganismus des Kunstwerks“ (BVerfG, Beschl. v. 13.062007 – 1 BvR 1783/05, Rn. 83) sind damit immer objektiviert und niemals losgelöst als tatsächlicher Hinweis auf das reale Individuum zu verstehen.

Isolierbare Teilelemente mit eigenständigem Aussagekern?

An anderen Stellen im Gedicht, werden aber auch Vorgänge mit realem Bezug erwähnt, beispielsweise die Schließung von Zeitungsredaktionen. Diese in der öffentlichen Diskussion bislang gerade nicht beanstandeten Teile des Gedichts sind nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Faktizitätsanspruch dann interessanterweise problematischer als die zutiefst beleidigenden anderen Verse im Gedicht, weil sie einen engeren Zusammenhang mit der tatsächlichen Person Erdogan herstellen. Das Bundesverfassungsgericht prüft bei einer Satire daher immer auch, ob die satirische Einkleidung isolierbare Teilelemente enthält, die nicht hinter der Gesamtdarstellung zurücktreten, weil sie einen davon ablösbaren, eigenständigen Aussagekern haben. Die Beleidigungen im Gedicht, die einen stärkeren Realbezug haben, wie beispielsweise der Umgang mit kritischen Zeitungsredaktionen, betreffen letztlich aber ebenfalls Erdogans Umgang mit der Meinungsfreiheit und sein damit zusammenhängendes Verständnis von Macht, so dass wohl kein ablösbarer, eigenständiger Aussagekern gegeben ist. Im Ergebnis überwiegen damit die unhaltbaren und absurden Massivbeleidigungen in der Gesamtdarstellung, so dass nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts insgesamt auch von einem Überwiegen der Kunstfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht auszugehen ist.

Ergebnis

Im Ergebnis überwiegen in Bezug auf das Schmähgedicht von Jan Böhmermann damit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach der hier vertiefend aufgezeigten Ansicht die Meinungs- und Kunstfreiheit  gegenüber dem Recht der persönlichen Ehre. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat in der erforderlichen Einzelfallabwägung zugunsten dieser für eine Demokratie konstitutiven Grundrechte der Meingungs- und Kunstfreiheit sowie im Interesse der öffentlichen Meinungsbildung zurückzutreten.

Die Gegenmeinung, die sich klar für eine Strafbarkeit von Jan Böhmermann ausspricht, wird wie eingangs kurz aufgezeigt ebenfalls intensiv vertreten. Das kontrovers diskutierte Gedicht wird damit letztlich auf jeden Fall einen wichtigen Zweck erfüllen: Die Grenzen der Meinungsfreiheit werden am Ende durch ein rechtskräftiges Urteil noch einmal neu präziert werden. Und das ist zumindest aus rechtsstaatlicher Sicht ein positiver Aspekt des Schmähgedichts.

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