Während des laufenden Verfahrens einer einstweiligen Verfügung treffen den Antragssteller weitreichende Mitwirkungspflichten. Unter Umständen muss er deshalb auch im laufenden Verfahren Schreiben vorlegen, die dem Gericht noch nicht bekannt sind. Der Antragsteller verstößt andernfalls ggfls. gegen die aus § 138 ZPO folgende prozessuale Wahrheitspflicht.
Das OLG München konkretisiert in einem Urteil vom 5.8.2021 (OLG München, Urteil v. 5.8.2021, Az. 29 U 6406/20) die prozessuale Waffengleichheit für das kennzeichenrechtliche Verfügungsverfahren.
Verfügungsantrag unzulässig – Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht
Anlass für den Rechtsstreit war eine Markenverletzung. Da die Abmahnung erfolglos blieb, ging die Antragstellerin im einstweiligen Rechtsschutz gegen die Antragsgegnerin vor.
Im Laufe des Verfahrens erhielt die Antragstellerin eine Stellungnahme des Antragsgegners, die sie noch am selben Tag beantwortete. Das Landgericht München wurde über diese außergerichtliche Korrespondenz nicht in Kenntnis gesetzt.
Antragsgemäß erließ das LG München am 21.4.2020 die einstweilige Verfügung, welche mit Urteil vom 06.10.2020 (LG München, Urteil v. 6.10.2021, Az. 33 O 4112/20) überwiegend bestätigt wurde.
Im darauffolgenden Berufungsverfahren machte die Antragsgegnerin geltend, dass die Antragstellerin sich rechtsmissbräuchlich verhalten habe. Mit Erfolg: Die einstweilige Verfügung wurde aufgehoben. Die Antragstellerin hätte das Schreiben vorlegen müssen und die Antragsgegnerin hätte die Möglichkeit haben müssen, durch Berücksichtigung der Stellungnahme ihres Prozessbevollmächtigten auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.
Prozessuale Waffengleichheit auch im kennzeichenrechtlichen Verfügungsverfahren
Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zur prozessualen Waffengleichheit seien auch in einem kennzeichenrechtlichen Verfügungsverfahren zu beachten.
Der Grundsatz der Waffengleichheit wird charakterisiert als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter sowie die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG ist ein Kernbestandteil des Grundsatzes der Waffengleichheit und wird auch durch ihn garantiert.
Aus dem Grundsatz der Waffengleichheit ergebe sich, dass der Antragsgegner vor einer stattgebenden Entscheidung zu hören sei – und zwar auch, wenn über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werde gem. § 937 Abs.2 ZPO. Ihm sei die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen und alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtige ein Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten.
Allerdings treffen nicht nur das Gericht die aus den Grundsätzen der prozessualen Waffengleichheit resultierenden Pflichten. Der Senat betont: Der Antragssteller habe alles ihm Zumutbare und Mögliche zu unternehmen, um dem Gericht eine sachgerechte Entscheidung über die Einbeziehung des Antragsgegners zu ermöglichen. Dazu gehöre regelmäßig das unaufgeforderte und unverzügliche Einreichen eines die Streitsache betreffenden Schriftsatzes, der bislang nicht am Verfahren beteiligten Gegenseite, auch wenn das Verfahren bereits in Gang gesetzt worden sei. Das bewusste Vorenthalten der außergerichtlichen Korrespondenz könne nicht mehr als redliche Prozessführung angesehen werden und verstoße gegen die prozessuale Wahrheitspflicht gem. § 138 ZPO.
Prozessparteien sind zur redlichen Prozessführung verpflichtet
Zur Begründung führt das OLG aus, dass der im materiellen Recht geltende Grundsatz von Treu und Glauben nach gefestigter Rechtsprechung des BGH auch im Verfahrensrecht gelte. Die Parteien seien zur redlichen Prozessführung verpflichtet. Der Grundsatz von Treu und Glauben verbiete den Missbrauch von prozessualen Befugnissen. Verstoße eine Partei gegen § 242 BGB, führe dies zur Unzulässigkeit der Ausübung prozessualer Befugnisse. In jeder Lage des Verfahrens sei dies von Amts wegen zu prüfen.
Es spiele auch keine Rolle, dass die Antragstellerin den zurückgehaltenen Schriftsatz nicht für relevant empfunden habe. Die Beurteilung der Relevanz der tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen des Antragsgegners obliegt alleine dem Gericht.
Die prozessuale Wahrheitspflicht eines Antragsstellers in Bezug auf außergerichtliche Einlassungen der Gegenseite ende folglich nicht bereits mit Antragseinreichung, sondern erst dann, wenn die Gegenseite gerichtlich einbezogen wurde oder eine Beschlussverfügung erlassen wurde. Sie verpflichte den Antragssteller zur vollständigen Erklärung über die tatsächlichen Umstände. Das OLG stellt heraus: Für die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Titelerschleichung genüge daher bereits das Verschweigen der vollständigen außergerichtlichen Korrespondenz.
Auswirkungen auf die Praxis
Praxisrelevant erscheint die Entscheidung unter den folgenden Aspekten:
Zum einen bestätigt das OLG München die Anwendbarkeit der prozessualen Waffengleichheit für das markenrechtliche Verfügungsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Grundsätze bislang konkret für das Lauterkeitsrecht (BVerfG 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss v. 27.07.2020, Az. 1 BvR 1379/20) anwendbar gehalten sowie für das Presse- und Äußerungsrecht. (BVerfG 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss v. 30.9.2018, Az. 1 BvR 2421/17).
Zum anderen sollten Vertreter des Antragsstellers bei zunächst ausbleibender Reaktion der Gegenseite nachfolgende außergerichtliche Korrespondenz dem Gericht unverzüglich zugänglich machen. Denn die prozessuale Wahrheitspflicht endet wie bereits oben ausgeführt erst, wenn die Gegenseite gerichtlich einbezogen wurde und nicht bereits mit der Antragseinreichung.