EuGH-Urteil stärkt Urlaubsanspruch, begrenzt Verjährung
Im Gegensatz zum Arbeitnehmer hat der Arbeitgeber in der Regel ein Interesse daran, dass Urlaub bei Nichtinanspruchnahme verfällt und er den entsprechenden Anspruch nicht auf unbestimmte Zeit erfüllen muss. Aktuell hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Verjährung von Urlaubsansprüchen befasst. Der EuGH urteilte, dass die regelmäßige Verjährungsfrist des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) keine Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber seiner Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nicht nachgekommen ist (EuGH, Urteil v. 22.09.2022, Az. C-120/21).
Der EuGH entschied bereits in einem grundlegenden Urteil, dass ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer darauf hinweisen muss, wenn er seinen Urlaub nicht nimmt, und ihn auffordern muss, den Urlaub in Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil v. 06.11.2018, Az. C-684/16). Unterbleibt ein solcher Hinweis, verfällt der Urlaub nicht.
Vorabentscheidungsersuchen zur Verjährungsdauer
Urlaubsansprüche verjähren in der Regel innerhalb der regelmäßigen Verjährungsfrist des § 199 BGB, die drei Jahre beträgt. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) legte dem Bundesgerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zu der Frage vor, ob diese dreijährige Verjährungsfrist auch dann gilt, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keinen Hinweis gegeben hat (BAG, Vorlagebeschluss v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20 [A]). Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der EG-Richtlinie 2003/88 vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh). Der EuGH entschied jetzt, dass die regelmäßige Verjährungsfrist hier keine Anwendung findet, die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers also nicht nach diesem Zeitraum verjähren.
Grundrechtecharta versus BGB-Verjährung
Die in der GrCh verankerte Grundrechte, so der EuGH, dürften nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen eingeschränkt werden. Derartige Einschränkungen müssten gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten, verhältnismäßig und erforderlich sein und von der Europäischen Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen.
Keine Verlagerung der Urlaubswahrnehmung auf den Arbeitgeber
Der Arbeitnehmer sei als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen. Deshalb solle die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung Urlaubsanspruchs zu sorgen, nicht vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert werden. Denn damit erhielte der Arbeitgeber eine Möglichkeit, sich seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers zu entziehen. Daraus folge, dass ein Urlaubsanspruch am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums nur unter der Voraussetzung verloren gehen könne, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den Urlaubsanspruch rechtzeitig auszuüben.
Verhinderung des Missbrauchs durch Arbeitgeber
Ansonsten könne der Arbeitgeber sich seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten entziehen. Er könnte sich auf sein eigenes Versäumnis, nämlich den unterbliebenen Hinweis, berufen, um daraus einen Vorteil zu ziehen, indem er dann Verjährung geltend macht. Ansonsten könnte ein Arbeitgeber auch drei Jahre in Folge keinen Hinweis und keine Aufforderung vornehmen und sich dann auf die dreijährige regelmäßige Verjährung berufen. Zudem hätte der Arbeitgeber einen unbilligen Vorteil, wenn der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub auf solche Weise verjähren würde.
Zweck: Gesundheitsschutz des Arbeitnehmers
Wäre der Arbeitgeber berechtigt, sich ohne Hinweis und Aufforderung auf Verjährung zu berufen, läge darin zudem eine Billigung einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers. Diese würde dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 der Charta verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufen, urteilte der EuGH.
Die Rechtsprechung in diesem Bereich ist – das zeigt der Vorlagebeschluss des BAG – noch im Fluss. Sicherlich darf man mit weiteren grundlegenden Urteilen auf diesem Feld rechnen.