BVerfG: Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit gilt grundsätzlich auch in wettbewerbsrechtlichen Eilverfahren
Weicht eine einstweilige Verfügung in einem presse- oder äußerungsrechtlichen Eilverfahren inhaltlich von einer außergerichtlichen Abmahnung ab, müssen die Gerichte die Gegenseite aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) vor dem Erlass der einstweiligen Verfügung anhören (Art. 103 GG). Dies gilt auch in dringlichen Fällen, in denen keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. So entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss von Anfang Juni 2020 (BVerfG, Beschluss v. 03.06.2020, Az. 1 BvR 1246/20).
Diese Rechtsprechung bestätigten die Verfassungsrichter Mitte Juni 2020 in einer weiteren Entscheidung (BVerfG, Beschluss v. 17.06.2020, Az. 1 BvR 1380/20).
Die aufgestellten Grundsätze übertrugen die Verfassungsrichter nun auf das Wettbewerbsrecht. Hinweise, die ein Gericht dem Antragsteller erteilt, müssten auch dem Antragsgegner zugehen.
Wird das rechtliche Gehör verletzt, ist eine Verfassungsbeschwerde nicht zwingend erfolgreich. Es kann an einem hinreichend gewichtigen Interesse an der Feststellung eines Verstoßes fehlen, so die Karlsruher Richter (BVerfG, Beschluss v. 27.07.2020, Az. 1 BvR 1379/20).
Nach erfolgloser Abmahnung folgte einstweilige Verfügung ohne Beteiligung der Antragsgegnerin
Dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht lag eine Verfassungsbeschwerde einer Dentaldienstleisterin zu Grunde. Ihre Kunden erhielten von ihr Sets. Mit deren Hilfe konnten sie von zu Hause aus Fotos und Abdrücke von ihrem Gebiss machen, um daraus individuelle Schienen zur Zahnkorrektur anzufertigen. Eine ihrer Kundin mahnte die Beschwerdeführerin ab. Bei den Produkten habe die CE-Kennzeichnung gefehlt, so die Begründung. Die Beschwerdeführerin zeigte sich unbeeindruckt. Eine Verpflichtungs- und Unterlassungserklärung gab sie nicht ab.
Vor dem Landgericht München I beantragte die Kundin daraufhin eine Unterlassungsverfügung. Das Gericht äußerte – ohne Einbeziehung der Antragsgegnerin – Bedenken bezüglich Antragsfassung und Glaubhaftmachung. Die Antragstellerin ergänzte daraufhin ihren Antrag und erwirkte den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Die Antragsgegnerin widersprach der einstweiligen Verfügung. Das Landgericht setzte einen Termin zur mündlichen Verhandlung in sieben Wochen fest. Den Antrag der Antragsgegnerin auf Einstellung der Zwangsvollstreckung wies es ab.
BVerfG sieht zweifachen Verstoß gegen prozessuale Waffengleichheit
Das Bundesverfassungsgericht sah in dem Vorgehen des Gerichts einen zweifachen Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit. Zum einen hätte die Antragsgegnerin vor Erlass der einstweiligen Verfügung angehört werden müssen. Dies sei notwendig gewesen, da der Verfügungsantrag nicht mit dem Unterlassungsbegehren der Abmahnung identisch gewesen sei. Nur bei identischem Wortlaut sei gewährleistet, dass sich der Antragsgegner ausreichend äußern konnte.
Zum anderen hätte der Hinweis an die Antragstellerin nicht ohne Einbeziehung der Antragsgegnerin erfolgen dürfen. Es sei verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Deshalb seien auch ihm richterliche Hinweise zeitnah mitzuteilen. Dies gelte insbesondere dann, wenn es darum gehe, einen Antrag nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.
BVerfG nahm Verfassungsbeschwerde dennoch nicht zur Entscheidung an
Die Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Nicht jede Verletzung des rechtlichen Gehörs, auch nicht ein Verfahrensirrtum wie er dem Landgericht München I unterlaufen sei, könne mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Es fehle an einem hinreichend gewichtigen Interesse an der Feststellung dieser Verfahrensverstöße. Der Eilantrag weiche in seiner ursprünglichen und nachgebesserten Form nur geringfügig vom Unterlassungsbegehren der außergerichtlichen Abmahnung ab. Die Antragsgegnerin werde darüber hinaus ausreichend durch § 945 ZPO geschützt. Danach ist der Antragsteller verschuldensunabhängig zum Schadensersatz verpflichtet, wenn die einstweilige Verfügung ungerechtfertigt vollzogen wird und dem Antragsgegner dadurch ein Schaden entsteht. Ein irreparabler Schaden der Antragsgegnerin, der durch diesen Schadensersatzanspruch nicht aufgefangen werden könne, sei nicht ersichtlich. Auch die mündliche Verhandlung sei noch ausreichend zeitnah terminiert worden.