Prozessuale Hürden statt Rechtsprechung: Wie Gerichte mit Formalien unliebsame Sachfragen vermeiden
Mit dem „Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs“ wurden insbesondere die formalen Anforderungen an Abmahnungen und prozessuale Rechtsetzungsmechanismen erhöht.
Gläubiger müssen nun detaillierte Angaben zu ihrer Anspruchsberechtigung, den tatsächlichen Umständen der Rechtsverletzung und möglichen Aufwendungsersatzansprüchen machen. Zudem wurden die Voraussetzungen für die Anspruchsberechtigung verschärft, insbesondere für Mitbewerber.
Die Reform sollte verhindern, dass Abmahnungen missbräuchlich als Einnahmequelle genutzt werden. Das war aber tatsächlich nie ein echtes Problem. Rechtsmissbrauchsfälle hätten sich nicht nur mit den bisherigen Regelungen lösen lassen, in der Praxis führen die neuen Formalien auch dazu, dass Gerichte sich zunehmend auf formale Anforderungen konzentrieren und Verfahren mit prozessualen Einwänden abhandeln, anstatt sich mit der materiellen Rechtslage auseinanderzusetzen.
Dass dies nicht nur ein abstraktes Problem ist, sondern mittlerweile systematisch Anwendung findet, zeigt ein Verfahren vor den Landgericht Stuttgart in eindrucksvoller Weise.
Landgericht umgeht die Rechtsfrage durch formale Argumentation
Statt einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zügig stattzugeben, beraumte das LG Stuttgart einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. Dies ist für sich genommen noch nichts ungewöhnliches. Bemerkenswert war jedoch, dass ich die Kammer damit sechs Wochen Zeit ließ.
Als der ersehnte Termin endlich stattfand, konzentrierte sich das LG Stuttgart auf vermeintliche formale Mängel statt sich mit den Verstößen der Beklagten gegen das Produktsicherheitsgesetz auseinanderzusetzen – und wies einen Antrag auf einstweilige Verfügung nach einer grotesken Vorstellung zurück (LG Stuttgart, Urteil v. 13.8.2024, Az. 34 O 55/24 KfH). Dass die Beklagte Kennzeichnungs- und Vebraucherschutzpflichten missachtet hatte, spielte plötzlich keine Rolle mehr.
Bemerkenswert war, dass das Gericht nicht nur formale Hürden nutzte, um sich eine inhaltliche Prüfung zu ersparen, sondern dies möglicherweise auch aus einer gewissen Verärgerung über die Verfügungsklägerin tat, die partout keinen Vergleich, sondern eine gerichtliche Entscheidung haben wollte.
Ein in der Sache klarer Fall
Die Verfügungsklägerin hatte im Rahmen eines Testkaufs festgestellt, dass die Beklagte Tischgestelle ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Herstellerangaben, ohne CE-Kennzeichnung und ohne EG-Konformitätserklärung vertrieb. Verstöße dieser Art sind nicht nur eine Wettbewerbsverletzung, sondern auch eine erhebliche Gefahr für den Verbraucherschutz.
Lange Verfahrensdauer, Vollmachtsrüge, Missbrauchsvorwurf, pauschales Bestreiten
Trotz dieser klaren Rechtslage wies das Landgericht Stuttgart den Antrag zurück und stützte sich dabei auf rein formale Aspekte: Die Klägerseite habe ihre Prozessvollmacht nicht im Original vorgelegt, weshalb die Vertretung nicht ordnungsgemäß nachgewiesen sei. Zudem seien die Ergebnisse des Testkaufs nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden – und das, obwohl sie durch eidesstattliche Versicherungen juristischer Mitarbeiter detailliert dokumentiert waren.
Diese Argumentation folgte exakt dem Muster, das durch die verschärften formalen Anforderungen an Wettbewerbsverfahren erleichtert wird: Statt eine Entscheidung über einen offensichtlichen Verstoß zu treffen, wurde das Verfahren hinausgezögert und über formale Einwände zur Farce gemacht. Die inhaltliche Rechtsfrage wurde gar nicht erst behandelt.
Vergleichsvorschlag als Versuch, sich eine Entscheidung zu ersparen
Besonders aufschlussreich war der Umgang des Landgerichts mit dem Fall in der mündlichen Verhandlung. Obwohl die Verstöße der Beklagten offensichtlich waren, schlug das Gericht den Parteien, die sich bereits seit längerem stritten, überraschenderweise einen Vergleich vor. Dass die Klägerseite diesen Vorschlag ablehnte und auf einer Entscheidung bestand, nutzte das Landgericht die Gelegenheit, sich mit formalen Hürden aus der Affäre zu ziehen. Das Verfahren wurde durch prozessuale Anforderungen entsorgt, anstatt die zentrale Rechtsfrage zu beantworten.
OLG Stuttgart korrigiert die Fehler der ersten Instanz
Durch diese Vorkommnisse verunsichert, konnte die Verfügungsklägerin nur mit Mühe dazu bewegt werden, ihren Anspruch mit der Berufung weiterzuverfolgen. Mit Erfolg: Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte die Fehlentscheidung richtig und machte unmissverständlich klar, dass die Verstöße der Beklagten evident waren und ein Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1, § 3a UWG i.V.m. den Vorschriften des Produktsicherheitsgesetzes zweifelsfrei bestand (OLG Stuttgart, Urteil v. 6.2.2025, Az. 2 U 130/24).
Das Gericht betonte, dass die Beklagte bereits 2022 eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben hatte und trotzdem in identischer Weise weiter gegen das Gesetz verstieß.
Ebenso ließ das OLG Stuttgart die Prozessstrategie der Beklagten nicht gelten, die von Beginn an nicht auf eine inhaltliche Verteidigung, sondern auf Verzögerung und Ablenkung ausgerichtet war. Das bloße Bestreiten des Testkaufs, das Infragestellen des Wettbewerbsverhältnisses und die pauschale Unterstellung eines Rechtsmissbrauchs konnten den Senat nicht überzeugen. Letzteres hielt das OLG offenbar – richtigerweise – für so abwegig, dass es dazu kein Wort verlor.
Der Rechtsmissbrauch wird inbesondere seit der erwähnten Gesetzesnovelle regelrecht inflationär erhoben. Der BGH hatte im Jahr 2022 Gelegenheit, zum vermeintlichen Missbrauch von Rechten einiges klarzustellen. Meine Besprechung der Entscheidung in der WRP 2023, 147 findet sich hier:
Fazit: Ein strukturelles Problem, das den Rechtsschutz aushöhlt
Das Urteil des OLG Stuttgart ist ein wichtiges Signal. Es zeigt, dass Unternehmen, die sich an gesetzliche Vorgaben halten, sich nicht von unlauteren Wettbewerbern benachteiligen lassen müssen.
Doch der Fall wirft auch eine grundsätzliche Frage auf: Wie viele eindeutige Rechtsverstöße werden aufgrund prozessualer Anforderungen gar nicht erst gerichtlich geahndet?
Wenn Gerichte sich zunehmend auf formale Hürden stützen, um Verfahren im Keim zu ersticken, bleibt der effektive Rechtsschutz auf der Strecke. Es gibt bereits Anzeichen, dass sich dieses Vorgehen als ungeschriebenes Muster etabliert hat und es für Betroffene immer schwieriger wird, ihre Ansprüche durchzusetzen.